Marihuana und das Tourette-Syndrom

Persönlicher Erlebnisbericht und ein erster Forschungseinblick

Übersetzung von Andrzej Pyrka

Tourette-Betroffene werden mit Psychopharmaka behandelt, viele unter ihnen erfahren jedoch nur wenig Besserung durch diese Medikamente.

Neil Schafer, der hier seine Geschichte erzählt, leidet seit seiner Kindheit am Tourette-Syndrom. Wir hatten die Gelegenheit, ihn 10 Minuten lang zu beobachten -- vor und nach drei Zügen an einer Marihuana-Zigarette. Vor dem Rauchen zuckte sein Kopf ständig zur Seite, er grunzte und schniefte alle paar Sekunden. Nach nur wenigen Minuten Rauchens waren die Tics vollständig verschwunden. Neil zufolge hält dieser Effekt drei oder vier Stunden an.
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Ich heiße Edward Neil Schafer. Ich bin 19 Jahre alt und leide am Tourette-Syndrom.

Fast mein ganzes Leben habe ich schon Tourette. Meine Hauptsymptome begannen um die dritte Klasse herum aufzutreten. In früheren Schuljahre bin ich wegen des Tourette-Syndroms in eine Menge Schwierigkeiten geraten.

In der dritten Klasse, ich war acht Jahre alt, bekam ich Probleme mit meiner Lehrerin. Sie schrie mich an, weil ich entweder mit meinem Stift auf den Tisch klopfte, mit meinem Fuß austampfte oder grunzte und quietschte. Meine Eltern gingen mit mir zu einem Kleinstadt-Arzt, der uns nahestand. Er schickte mich für einige Tests ins Plymouth-Hospital nach Indiana und kam zu dem Schluß, daß ich Tourette haben "könnte". Ich erinnere mich, daß ich während dieser Zeit Angst hatte: Ich machte andauernd all diese merkwürdigen Geräusche, tat mir selbst weh und konnte es nicht kontrollieren. Und ich wußte, daß auch meine Eltern Angst hatten, vor allem als ich begann, meinen Kopf auf und ab zu werfen und meine Brust durch das Herabzucken meines Kinns wundzuschlagen.

Weil sie fürchteten, ich könne meinen Hals verletzen, mußte ich eine (weiche) Halskrause tragen. Ich erinnere mich auch, daß alle Kinder dachten, ich wäre ein durchgeknallter Spinner. Deshalb hatte ich nie sehr viele Freunde außer Tommy. Für mich ist er wie ein Bruder. Ich liebe ihn über alles. Ich kenne ihn schon mein ganzes Leben. Eines Tages wird er ein Polizist sein - er hat keine Probleme mit meinem Tourette-Syndrom. Egal, jedenfalls mußte ich zusammen mit der Halskrause einen Mundschutz tragen, damit ich beim Herunterschlagen meines Kopfes nicht meine Zähne bräche.

Von den anderen Kindern mußte ich viele Bösartigkeiten schlucken. Mein Vater sprach darüber mit der Lehrerin, die Kids beruhigten sich für eine kurze Zeit, fingen dann aber gleich wieder an.

Als ich neun Jahre alt war, fuhren mich meine Eltern zu einem Neurologen nach Fort Wayne, Indiana. Er hieß Dr. Ottinger. Er beobachtete mich eine zeitlang und gab meinen Eltern dann einen Haufen Literatur über das Tourette-Syndrom. Er sagte, daß ich es sehr wahrscheinlich hätte.

In der fünften Klasse begann ich das Medikament Tranxen (Clorazepat) 7,5 mg zu nehmen, um meine tics zu "kontrollieren". Ich wurde zu einem anderen Menschen. Nichts interessierte mich mehr. Schließlich bekam ich eine solch hohe Dosis, daß ich nichts anderes mehr tat als dazusitzen oder zu schlafen. Die ganze Zeit war ich wütend -- und gleichzeitg peinlich berührt.

Ungefähr in der siebten Klasse ließ das Medikament in seiner Wirkung nach. Ich begann, meine Lehrer nachzuäffen, schlug meine Stifte so hart auf, daß sie brachen, ich blinzelte ziemlich schlimm, rollte meine Lippen, schüttelte meinen Kopf, stand die ganze Zeit auf und setze mich wieder.

Meine Eltern sorgten sich so sehr, daß sie mit mr zu Dr. Hoyer in Lafayette, Indiana gingen. Er diagnostizierte ein ausgeprägtes Tourette-Syndrom und gab mir Clonidin 0,1 mg. Ich mußte mich an das Medikament gewöhnen, bis ich drei ganze Tabletten täglich nahm. Zu diesem Zeitpunkt gehörte mein Leben nicht mehr mir. Ich konnte mir nichts merken. Ich machte überhaupt nichts mehr. In der Schule fiel ich überall durch, wurde rausgeworfen, weil ich im Unterricht einschlief. Ich war so traurig und verwirrt, von Haß erfüllt. Ich fühlte mich wie in einer unsichtbaren Glasflasche, in die Welt da draußen blickend und wünschend, dabei zu sein.

Dann verlor das Clonidin langsam seine Wirkung und ich fing an zusätzlich Haldol (Holoperidol) 0,5 mg zu nehmen. Das machte mich völlig verrückt. Ich funktionierte überhaupt nicht mehr. Stattdessen funktionierten mich die Leute, weil ich nicht mehr wußte, was zu tun war.

Ich hatte ernsthafte Probleme in der Schule, so daß meine Eltern einen Anwalt nahmen, um die Last der Schule von meinen Schultern zu nehmen. Ich bekam eine Sonderausbildung. Wir mußten ca. $3000 an Anwaltskosten bezahlen. Ich ging nochmals zu Dr. Hoyer und er wollte, daß ich Orap (Pimozid) nehme, aber bevor ich es nahm, mußte mein Herz überprüft werden, weil man es mit einem schwachen Herzen nicht nehmen darf. Ich dachte nur: Auf gar keinen Fall! Bis hier hin und nicht weiter! Meine Eltern waren einverstanden und ich nahm also kein Orap. Die ganzen Pillen hingen mir zum Hals raus und ich sagte nur: Fuck it, ich nehme keine Pillen mehr. Um diese Zeit herum entwickelte ich mich zu einem gemeinen Arschloch, ich habe jeden gehaßt. Schließlich fand ich Anschluß in einer Gruppe von ziemlich rauhen Typen, einem Haufen Jugendlicher, die mit der ganzen Scheiße dieser Gesellschaft nichts mehr zu tun haben wollten.

Ein Typ namens Paul, bemerkte eines Abends meine Stimmung und fragte mich ob ich high werden wolle. Zuerst war ich ein bißchen nervös aber dachte mir: Wieso eigentlich nicht. Ich erinnere mich, daß dieses erste Mal ziemlich lustig, und ich eigentlich auch ganz glücklich war. Nun ja, damals war ich zwölf oder dreizehn und seitdem habe ich die ganze Zeit Gras geraucht. Doch jetzt aus einem anderen Grund. Früher wurde ich high um zu feiern. Als ich 16 war und eines Abends high wurde, bemerkte ich aber, daß meine Tics aufgehört hatten. Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Konnte es das sein? Ich wußte es nicht.

Nun, die Cops in Charleston erwischten mich mit einem Pfeifenkopf voll Haschisch. Es ist schon witzig, wie die dich und deinen Wagen illegalerweise durchsuchen dürfen, mit deinen Eiern spielen und dir noch einen Strafzettel geben dürfen. Als ich ihn bekam, wußte ich, daß ich es meinen Eltern erzählen mußte. Zunächst meiner Mutter -- ich wußte, daß sie mich nicht schlagen würde. Ich erzählte ihr, wieso ich jetzt Gras rauchte und wieso ich den Pfeifenkopf bei mir hatte. Sie war ein wenig erschrocken und wollte den Beweis sehen. Ich zeigte es ihr und sie glaubte mir. Jetzt mein Vater. Er dachte, ich würde Blödsinn erzählen und wollte mich gerade zusammenschlagen, aber Mom sagte ihm, er solle sich das mal anschauen. Ich führte ihm das ganze vor, indem ich ein paar Züge von meiner Pfeife nahm. Meine Tics hörten fast komplett auf. Er traute seinen Augen nicht. Ich funktionierte immer noch, lachte, sprach vollständige Sätze ohne zu quietschen oder zu knurren. Von da an hatte ich die Unterstützung von beiden.

Seitdem ich Gras rauchte und meine Eltern das OK fanden, konnte ich mich besser auf die Schule konzentrieren. Meine Zensuren wurden besser. Je mehr ich rauchte, desto besser konnte ich denken, vor allem da ich keine Medikamente mehr in mir hatte. Vier Wochen vor meiner Graduation zog ich dann mit meinem Bruder Danny zusammen. Er hatte mir einige Regeln aufgestellt: Kein Gras zu Hause, und ich durfte nicht zu Hause sein, wenn ich high war. Also ließ ich das Zeug in meinem VW-Bus. Ich wurde high im Bus, und wenn ich zur Schule ging, ließ ich es dort. Nun ja, an einem Morgen, als ich drei Gramm Haschisch bekommen hatte, enschied sich die South Whitley Police Force, 15 Hunde auf meinen Bus loszulassen und ich wurde mit den drei Gramm erwischt. So flog ich zwei Wochen vor meiner Graduation von der Schule. Leicht zu erraten, wie ich mich gefühlt habe. So nah am Ziel. Nach dem Sommer ging ich dann auf eine altenative Schule und bekam mein High School-Diplom im October 1996.

Ich lebe immer noch bei meinem Vater und er hilft mir immer noch mein Marihuana zu bekommen -- auch wenn wir es uns nicht leisten können, so viel zu kaufen wie ich bräuchte. Wir kommen irgendwie zurecht, aber ich finde keine Arbeit wegen der Drogentests. Ich denke es ist ein Segen Gottes, daß er uns diese Medizin gegeben hat, um so viele Krankheiten zu heilen; vor allem meinem Tourette-Syndrom zu helfen, das die Pillen nicht einmal berührt haben.

Ich fühle mich wie ein normaler Mensch. Ich lebe ein ruhiges Leben draußen auf dem Land. Ich gehe nicht sehr oft aus, außer zum Campen. Ich mache niemandem Schwierigkeiten, und ich bin nicht gewalttätig. Ich will nicht für etwas ins Gefängnis kommen, das meinem Tourette-Syndrom hilft und mir ermöglicht, zu funktionieren. Ich glaube, und meine Familie glaubt das mit mir, daß Marihuana die beste Medizin ist, die ich je hatte. Keines meiner Familienmitglieder trinkt oder nimmt Drogen oder raucht auch nur Zigaretten. Jetzt liebe ich das Leben -- bis auf die Angst, für den Besitz von etwas verhaftet zu werden, das ich haben muß.

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Das Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft "Cannabis als Medizin" veröffentlichte kürzlich folgende Zusammenfassung einer neuen Studie über das Tourette-Syndrom:

Im 'Nervenarzt' wurde ein strukturierter Fragebogen veröffentlicht, mit dem 47 Patienten [mit Tourette] von der medizinischen Fakultät Hannover über ihren Gebrauch und die Wirkung von Alkohol, Nikotin und Marihuana befragt wurden.

Es zeigte sich, daß Marihuana einen positiven Einfluß auf die Symptome hat und eine Verbesserung bewirkt. Das Gilles de la Tourette-Syndrom, kurz Tourette-Syndrom, ist eine verbreitete und komplexe Störung des neuropsychiatrischen Spektrums, sich zeigend in plötzlichen Spasmen vor allem im Gesicht, am Hals und in den Schultern (Verzerrungen des Mundes; zuckendes Drehen des Kopfes), sogenannten "Tics". Diese Krankheit bricht häufig während der Kindheit oder Jugend aus.

In der Zusammenfassung wird berichtet: "Mit einem strukturierten Fragebogen befragten wir eine größere Gruppe von Patienten mit Tourette (n=47) über den Gebrauch von Nikotin, Alkohol, und Marihuana und ihre subjektiven Erfahrungen. Von 28 [tabak-]rauchenden Patienten berichteten nur 2 (7%) von einer Verminderung der Tics durch das Rauchen. Von 35 alkoholtrinkenden Patienten bemerkten 24 (69%) eine Verbesserung.

13 Patienten berichteten von Marihuana-Gebrauch, von denen 11 (85%) eine beachtliche Verbesserung bemerkten. "Unsere Ergebnisse sind ein starker Nachweis dafür, daß Alkohol und -- in noch stärkerem Ausmaße -- Marihuana eine viel stärkere Verbesserung des TS bewirken als das Rauchen von Nikotin."

Im Schlußsatz sagt die Studie, daß "unter Berücksichtigung der beachtlichen Nebenwirkungen der z.Zt. gebräuchlichen Therapieformen, die Neroleptika anwenden und in Anbetracht der begrenzten Alternativen, könnten Cannabinoide in Zukunft zu Therapiezwecken verwendet werden, wenn weitere klinische Forschung in Form von kontrollierten Studien durchgeführt sein wird."

Quelle: Müller-Vahl KR, Kolbe H, Dengler R.: Gilles de la Tourette-Syndrom. Einfluß von Nikotin, Alkohol und Marihuana auf die klinische Symptomatik. Nervenarzt 68: 985-989, 1997.