Brief von Silvia Viertel
Ich möchte anknüpfen an meine Worte in der "Tourette Aktuell" vom November 1995 und eine Zwischenbilanz ziehen auf meinem Weg zu einer neuen besseren Lebensqualität. Das erworbene Wissen über das Tourette-Syndrom ermöglichte es mir, Vergangenes noch einmal unter einem erweiterten Blickwinkel zu analysieren, was ich mit meinen ersten Ausführungen schon teilweise getan habe. Diese neuen Erkenntnisse haben mich jedoch dazu veranlaßt, diese Analyse auszudehnen und auch mein Umfeld, d.h. das Verhältnis zu meinen Arbeitskollegen, meiner Familie, Bekannten und Freunden einzubeziehen. Ich hatte mir selber vieles eingeredet, aber nun trat auch die Diskrepanz zwischen dem, was mir von anderen eingeredet wurde und dem, was ich wirklich bin, immer deutlicher zutage. Die im Laufe der Jahre entwickelte Angst vor Ablehnung, wegen dieser Tics, hatte mir das Gefühl vermittelt, auf Arbeit und auch in anderen Situationen ständig überdurchschnittliche Leistungen bringen zu müssen, um zu beweisen, daß auch ich was wert bin. Diese auffällige motorische Unruhe, diese Abweichung von der Norm, zwang mich, "allzeit bereit" und "immer für andere da" zu sein. Nun drängten sich mir Fragen auf: "Warum hat mir keiner gesagt, daß sie mich so akzeptieren, wie ich bin, auch ohne diese ständigen Samariterdienste?", "Gab es da nicht auch Nutznießer meiner Angst?" Während ich von Erfolg zu Erfolg hechelte und nach Anerkennung strebte, ließ ich die scheinbar kleinen alltäglichen Dinge von meinem Mann erledigen. Das kam mir so gelegen, denn hier konnte meiner Meinung nach die Tic-Störung doch einige kleine Mißgeschicke mit sich bringen.
Ohne sich der Gefahr bewußt zu sein, nahm mir mein Mann diese für mich unangenehmen Aufgaben des täglichen Lebens ab.
Ich getraute mich nicht mehr, alleine einkaufen zu gehen, weil ich befürchtete, daß mir beim Bezahlen an der Kasse durch die Tics das Geld aus dem Portemonmaie fallen könnte.
Ich hob kein Geld mit der EC-Karte ab, weil ich Angst hatte, ich würde den Einwurfschlitz verfehlen, wenn noch andere Leute davor warten.
Mein Mann fuhr mit dem Auto zur Tankstelle, weil ich mir einbildete, es würden Fragen aufkommen, wenn ich ticend mit der Zapfpistole an meinem Auto stehe... Er hatte es nur gut gemeint, weil ich mit Arbeit (vor allem in der Softwareentwicklung) überhäuft war, bis ich endlich erkannte, daß mir ein großes Stück Selbstständigkeit verloren gegangen war. Diese schonungslose Wahrheit war für mich unerträglich geworden und ich mußte sichtbare Veränderungen einleiten. Ich begann zum erstenmal laut über einen Arbeitsplatzwechsel nachzudenken, und da waren sie auch schon wieder, diese Schmähredner, die da sagten "Sei froh, daß du hier Arbeit hast und ob andere Arbeitgeber deine Tics tolerieren...". Mir wurde klar, daß ich in diesem destruktiven Umfeld nicht erlernen konnte, mich wieder auf mich selbst zu verlassen. Ich erfuhr, daß eine Firma aus Westdeutschland in der Nähe meines ostdeutschen Heimatortes eine hochmoderne Fabrik aufbaut und Softwareentwickler sucht. Ich bewarb mich auf diese Annonce und fügte meiner Bewerbung eine Information zu meiner Tic-Störung bei. Auf Grund dieser Information blieb es bei mir nicht nur bei einem Vorstellungsgespräch, sondern meine neuen Arbeitgeber ermöglichten es mir, drei Tage in einem neuen Kollektiv mitzuarbeiten. Nun arbeite ich schon 11 Monate in Westdeutschland und werde Ende nächsten Jahres die Softwareapplikationen im neuen ostdeutschen Werk mit einführen, betreuen und weiterentwickeln. Ich fahre alle 14 Tage nach Hause (das sind ca.12OO km Hin- und Rückfahrt). Tankstellen, Geldautomaten und Einkaufen gehen, sind für mich fast kein Problem mehr. Natürlich war und ist das nicht so einfach unter diesen neuen Lebensumständen. Da kamen auch Zweifel. Es gab Tränen. Und auch meine Angst; die habe ich zugelassen, aber sie geht vorüber. Auf Arbeit war es anfangs auch nicht so sehr die Angst vor dem Versagen, sondern der Widerstand gegen die Vorstellung, "nochmal von vorn anfangen zu müssen", denn ich mußte ein vollkommen neues Entwicklungswerkzeug beherrschen lernen. Meine Tics und die graphische Entwicklungsumgebung unter Windows harmonieren nicht sonderlich gut. Es bedarf oft mehrerer Anläufe, bis die richtige Schaltfläche auf dem Bildschirm den Fokus besitzt, oder habe ich ein Control-Element endlich am richtigen Platz, dann macht mir eine heftige Armbewegung wieder alles zunichte und der Mauszeiger bewegt sich unkontrolliert irgendwo anders hin und löst mitunter ungewollte Aktionen am Computer aus. Das ist sehr kraft- und zeitraubend, aber irgendwie schaffe ich es doch und das ist wichtig. Jetzt passe ich aber auf, daß ich nicht wieder diesen Perfektionismus an den Tag lege, wie an meinem alten Arbeitsplatz und mich unnötig zum Märtyrer mache. Ich will von meinem Energiekonto nicht immer nur abheben, so daß ich das Gefühl habe, allmählich bankrott zu gehen. Selbstverständlich will ich nicht nur Nehmen, sondern mich auch weiterhin am Geben beteiligen. Aber ich muß Rücklagen haben, damit ich mir aus eigener Kraft immer aus der Patsche helfen kann. Und noch was: Macht die Zweifel anderer nicht zu euren eigenen Zweifeln und kämpft weiter!
Eure Silvia Viertel
Quelle: Mitgliederzeitung der Tourette-Gesellschaft Deutschland "Tourette Aktuell" Nr. 4