Tanzen mit Tourette

von Hermann Krämer

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht. Dabei spielt die Art der Musik, die ich wähle, keine große Rolle. Hauptsache, sie gefällt mir und ich fühle mich wohl dabei!

Es ist mir möglich, die teilweise bizarren physischen Ausdrucksformen des Tourette-Syndroms in die Bewegungen des Tanzes mit einfließen zu lassen. (1 Stunde Tanzen = 1-2 Stunden Erleichterung)
Das TS lässt sich dadurch zwar nicht auf Dauer beeinflussen, aber für eine auch nur zeitweise Harmonisierung meiner angestrengten Muskulatur tue ich alles!

 

Erfahrungen von Christiane K.

Lieber Herr Krämer!

Die Erfahrung, die Sie machten, ist wunderbar und zutiefst natürlich. Toll, dass Sie darüber berichten. Ich denke, es ist von riesiger Bedeutung, das Thema "Seele" im Zusammenhang mit Tourette einzubeziehen und mal näher unter die Lupe zu nehmen.

Endlich kann ich mal etwas Dampf in der Richtung ablassen. Auf den Tourette- Tagungen erfahre ich viel Interessantes, was kluge Wissenschaftler in aufwendiger fleißiger Arbeit erforschten. Es wird mir jedoch zu eng und zu einseitig über Gehirnforschung, organische Ursachen und Medikamente berichtet. Dass der Mensch, worunter auch wir Tourettis zählen, ein ganzheitliches Wesen ist, versteht sich von selbst. Deshalb möchte ich mal zu einer Diskussion aufrufen, die mir schon seit 20 Jahren am Herzen liegt.

Wie sind Eure Erfahrungen mit "Seelentherapie" ???

Sicher sehr unterschiedlich. Wahrscheinlich von "Fall" zu "Fall" verschieden, wie auch jedes Individuum als Einzelwesen zu betrachten ist und wie offen man dafür ist, in seiner Seele zu forschen. Denn es gehört eine erhebliche Portion Mut dazu.

Kurz zu meiner Person. Ich bin von einer Magersucht, die mit extremem Sport (Ballett) einherging, über Zwangssymptome in das sogenannte Tourette-Syndrom geschlittert, von dem ich, wie wohl fast jeder andere, anfangs gar keine Ahnung hatte. "Das ist keine Krankheit- das bin ich", dachte ich.

"Es ist nur durch mein chaotisches Gestrampel (ritueller Abendsport) entstanden. Weil ich nicht richtig abtrainierte, bekam ich Atemstörungen und musste immer öfter komische Laute von mir geben, weil ich durch das Nicht- atmen solchen Druck auf der Brust spürte, als würden 10 Steine darauf liegen." So konnte ich mir alles erklären.

Im Sommer 1978 kam ich das erst Mal in eine Klinik. Ich war 19.

"Akute Psychose!", flüsterte die Ärztin mit den großen stolzen Augen meinen überbesorgten Eltern zu. Noch am selben Abend wurde mir das erste Mal mein randvoll gefülltes Tablettenschälchen von der Schwester gereicht. Es sah gar nicht so schlecht aus, dieses Arrangement dort in der weißen Plaste. Einem Kinderherz würden die Augen aufgehen. Meine gingen zu, nicht für immer, aber ich lag den gesamten nächsten Tag unansprechbar auf dem Bett. Auch die folgenden.

Als Zombie war ich zu allem fähig, aber zu nichts mehr zu gebrauchen. Man konnte mit mir alles bereden, aber nichts mehr besprechen. "Es geht Ihnen besser, nicht wahr? Sie sind viel ruhiger geworden", freute sich die nette, junge Ärztin.

So wollte ich nicht mehr leben.

Ich bekam Elektroschocks. Nach dem Allerersten ging es mir blendend.

Ich fühlte mich befreit, hatte keine Zwänge, keine Tics mehr. Ich stand wie von Lazarus geweckt, einfach auf, zog mich an und verließ unter den verblüffenden Blicken meiner Zimmergenossen das Zimmer, ohne Geräusche, ohne Rituale, ohne Angst.

Ich konnte nach Hause fahren, besuchte Freunde und empfand mich als geheilt.

Doch der Spuk weilte nicht lange. Man setzte die Behandlungen fort (30 Stück an der Zahl!) und das alte Bild stellte sich bald wieder ein. Es ging mir immer schlechter. Nach Drängen meiner Eltern kam ich dann in die Charité, in sofortige Betreuung meiner Ärztin, die damals eine Anorexie (Magersucht)- Gruppe therapieren wollte. Es war eine ausgefeilte Psychotherapie mit 10 Mädchen in meinem Alter. Musik, Gesang, Kommunikative Bewegung und Gespräche bestimmten den Alltag- ohne eine einzige Pille.

Nach zwei Monaten war ich wieder symptomfrei, für ca. ein Jahr.

Dann, nach einer enttäuschten Liebe, begann es von vorn. Essenrituale, Zwänge, Tics. Ich machte viel kaputt, konnte mir aber psychologisch alles erklären, warum ich all die komischen Sachen tun musste. Ich musste mich mit meinen Zwängen testen, bis etwas GERADE- NOCH- NICHT- auskippte, kaputtriß, gehört wurde usw.

1981 wurde ich von meiner Ärztin das erste Mal mit dem Begriff "Tourette- Syndrom" konfrontiert und konnte damit genauso viel anfangen, wie ein Pferd mit Messer und Gabel. Was soll das sein? Kann man das essen? So ungefähr.

Nun, ja, es wurde herumexperimentiert mit Medikamenten und ich bekam dann-

sage und schreibe- schon 1983 (!) das Tiapridex verabreicht, was sogar Linderung brachte. Die damalige DDR benötigte ein bestimmtes "Einfuhrformular", weil es importiert werden musste. Irgendwann konnte die DDR es nicht mehr beziehen und ich saß auf dem Trockenen. Folge: Totaleinbruch auch aufgrund von privatem Stress, Tourette blühte neu auf in seiner vielfältigsten Pracht. War nun nur der Stress oder die Riesenangst davor, die Tabletten nicht mehr bekommen zu können ausschlaggebend für mein Tief? Sicher kam viel zusammen.

Ich kam wieder in die Klinik - ohne Erfolg.

In großer Not der letzte Versuch- Elektroschock. Vielleicht hilft´s ja wieder. Das einzige, was es bewirkte, war das teilweise Löschen meines aktuellen Erinnerungsvermögens.

Um es kurz zu machen, ich irrte so recht als schlecht, mal besser, mal schlechter, ("Clomipramin" erwies sich als lindernd) durch die Welt, wurde 1983 berenntet und fristete mein Dasein mit der 20-Stunden-Woche auf Arbeit beim Fernsehfunk.

Jetzt bin ich verheiratet, habe zwei Kinder im Alter von 8 und 11 Jahren, die gesund sind. Mein Partner ist nicht nur mein bester Freund, dem ich alles erzählen kann - wir sind auch aneinander, mit den Problemen, gemeinsam gewachsen.

Seit ein paar Jahren beschäftige ich mich mit Esoterik, Naturheilkunde und den Lehren der indianischen Kunst. Hier habe ich mich wiedergefunden, die Seele verstanden und was mir meine Krankheit "sagen" will. Ich beschäftige mich mit Meditation, Musik und Malen, mit Gesang und sanften, inspirativen Tänzen und kann nur den Worten von Hermann Krämer beipflichten.

Die Musik als heilende Funktion ist bekannt seit Menschengedenken. Ihre Schwingungen dringen in die Seele ein und lassen sie fließen. Damit entspannt sich der gesamte Körper, da Körper und Seele eins sind.

Was dann noch von Tourette übrigbleibt ist nicht sehr viel.

Ich weiß, dass einige nicht meiner Meinung sind. Doch ich erlebe meine Symptome in der Meditation und danach im Alltag als in Tics manifestierte blockierte Energien, sprich GEFÜHLE, die sich lösen, wenn ich sie beachte!

Unterstützend dazu wirkt sich meine spezielle Psychotherapie aus- die Gestalttherapie, die anstrebt, Körper und Geist in Einklang zu bringen, indem ich in mich hineinhorchen lerne, den Augenblick erfahre, um allen positiven und auch Missempfindungen viel Raum in meinem Selbst zu geben. Wir leiden mehr, wenn wir krampfhaft bemüht sind, all unsere unangenehmen Empfindungen und Symptome möglichst schnell weghaben zu wollen. Sie bleiben, wenn sie ungeachtet und ungeduldet werden und immer mehr kommen hinzu.

Das beweist mein Leben.

Was sind Eure Erfahrungen?

Christiane K.

Quelle: Mitgliederzeitung der Tourette-Gesellschaft Deutschland "Tourette Aktuell" Nr. 4