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Die Gesellschaft muss sich ändern

von Lothar Schwalm

Das Tourette-Syndrom (TS) ist eine ungewöhnliche Erkrankung des Nervensystems. Sie bringt zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Verlaufsformen mit sich. Die Betroffenen haben sogenannte Tics (plötzliche Muskelzuckungen oder Lautäußerungen), die sie oftmals kaum kontrollieren können. Sie hüpfen, stolpern, schreien, räuspern sich, tanzen manchmal, drehen sich verzweifelt um die eigene Achse oder fluchen mit sexuellen, obszönen oder rassistischen Begriffen.

All dies können die meisten nur schwer, das heißt, mit ungeheurer körperlicher Kraftanstrengung, viele aber auch gar nicht kontrollieren. Motorische und vokale Tics bahnen sich ihren Weg in die Freiheit. Dazu kommen häufig zwanghafte Rituale, die sich in endlosen Gedankenketten oder bizarren, scheinbar sinnlosen Handlungen widerspiegeln.

All das sind Ausdrucksformen des TS. Manche Betroffene haben nur wenige Tics, andere haben mehrere oder fast alle Symptome, die typisch für das TS sind.

Alle Betroffenen verhalten sich in den Augen ihrer nichtbetroffenen Mitmenschen ungewöhnlich, sind anders. Ich frage mich oft:

Warum denn eigentlich nicht?

Warum fällt es dieser Gesellschaft so schwer, das und diejenigen zu akzeptieren, die anders sind als sie selbst?

Dieses Verhalten betrifft nicht nur Eltern, die sich oftmals verzweifelt wünschen, die Tics und Zwänge des Kindes wären nicht (mehr) vorhanden. Das gilt gleichermaßen für Ärztinnen und Ärzte, besonders aus der Schulmedizin, die immer darum bemüht sind, eine Normalität herzustellen, die es meiner Meinung nach sowieso nicht gibt und auch nicht geben sollte. Das betrifft Freundinnen und Freunde von TS-Betroffenen, die sich von uns abwenden, wenn wir ticen; es sind Fahrprüferinnen und Fahrprüfer oder ArbeitgeberInnen, die an die Erfüllung einer bestimmten Verhaltensnorm denken, wenn sie prüfen und einstellen.

Sicherlich, ich könnte jetzt mit psychologischen Erklärungsmodellen aufwarten, die da sagen: Alles fremdartige macht Angst, die Menschen haben Angst vor dem, was sie nicht kennen, sie haben Angst, auch so zu werden ...

Aber dafür bin ich viel zu wütend. Mich macht einfach wütend, dass Menschen nicht in der Lage sind zu sagen: "O.k., das ist fremd für mich, ich habe Angst davor, aber ich will es (sie/ihn) kennenlernen, damit ich meine Angst verliere."

Statt dessen wird abgeblockt, weggeguckt, gelacht, diskriminiert, nach Medikamenten gerufen. Vielleicht sollten wir uns einmal überlegen, dass ein jedes Sosein einen Sinn hat und Sinn macht. Einem Baby klebe ich auch nicht den Mund zu, nur weil es ständig schreit. Das ist zwar unangenehm, aber dieses Verhalten wird akzeptiert.

Ich wünsche mir einfach, dass unser Verhalten akzeptiert wird, nicht toleriert, sondern akzeptiert. Vielleicht arbeite ich deswegen in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, der bundesdeutschen BürgerInnenbewegung behinderter Menschen mit, weil ich möchte, dass wir akzeptiert werden, so wie wir sind. Das heißt nicht, dass wir keine Medikamente nehmen sollten; ich selbst nehme seit fast fünf Jahren Medikamente, die mir helfen, aber dennoch möchte ich einfach dafür plädieren: Nehmt uns so, wie wir sind, macht uns nicht zu Marionetten eurer Normalitätsphantasien!

Quelle: Mitgliederzeitung der Tourette-Gesellschaft Deutschland "Tourette Aktuell" Nr. 4