Eine Sache der Akzeptanz ...

von Olaf Blumberg - Paderborn, 27.01.2009

Ich möchte an dieser Stelle einmal erzählen, wie das Tourette-Syndrom mein Leben geprägt hat, wie ich die Zeit der Diagnose erlebt habe und natürlich die Auswirkungen der Krankheit auf meinen weiteren Werdegang.

Ich, das ist der Olaf, 24 Jahre und Student der Katholischen Hochschule in Paderborn. Ich studiere „Soziale Arbeit“, eine Mischung aus Sozialpädagogik und Sozialarbeit, im ersten Semester. Wenn ich damit fertig bin, dann darf ich mich stolz „Bachelor of Social Arts“ nennen. Es lebe das Denglisch...

Das ich jedoch in Paderborn gelandet bin, war lange Zeit nicht gewiss. Ehrlich gesagt hatte ich mir das früher auch niemals vorgenommen. Zum Zeitpunkt der Diagnose war ich nämlich noch eingeschrieben an der Ruhr-Universität Bochum, und zwar als Sportstudent...

An die Zeit rund um die Diagnose denke ich mit sehr gemischten Gefühlen zurück. Es war der April 2007 als ich bemerkte, dass ich immer häufiger  schreien musste. Ruckartig und stoßweise. Also kein Grunzen oder Schniefen, sondern ein richtig lautes Bellen.
Zu der Zeit hab ich in einem Studentenhochhaus in der Nähe der Uni gewohnt und weiß noch genau wie ich nervös auf meinem Zimmer auf und ab ging und dachte. „Jetzt rufen die gleich die Klappsmühle an und holen dich ab!!!“

Woher sollte ich auch wissen, dass ich das Tourette-Syndrom haben könnte?! Ich kannte mich zwar schon von früher als einen Jungen, der mit dem Kopf gewackelt hat, mit den Zähnen klapperte und unverhältnismäßig oft schniefte, nur haben mir meine Eltern dieses Verhalten immer so „erklärt“, dass ich einfach zu viel Fernsehen gucken würde...woher sollten sie es denn auch besser wissen?...

Nun zog ich die elterliche Erklärung auch diesmal heran, das funktionierte aber irgendwie nicht mehr. Zu laut und zu oft wurde das Schreien.
Also konsultierte ich mal Dr. Internet und machte mich ein bisschen schlau. Immer öfter tauchte da das Wörtchen Tourette auf, doch ich ignorierte es geflissentlich. In meinem Kopf war Tourette diese lustige Flucherkrankheit, die ich aus ein paar Filmen und schlechten Sketchen kannte. Das ich daran leiden konnte? Unvorstellbar!
Aber als ich den Begriff dann doch anklickte, passte die Symptombeschreibung wie die Faust aufs Auge. Ich fackelte nicht lange und besorgte mir einen Termin beim Neurologen in Dortmund, der bei mir schließlich die Krankheit diagnostizierte.

Im Juni 2007 war’s dann soweit, ich hielt das Gutachten mit der Diagnose in der Hand und war damit offiziell ein „TS-ler“.
Ich glaube als ich es schwarz auf weiß hatte, habe ich eine ganze Zeit erstmal gar nichts gefühlt, hab sogar darüber erstmal ganz sachlich mit meinem Bruder geredet. Und irgendwie war ich auch erleichtert endlich eine Erklärung gefunden zu haben, auch bezogen auf meine Kindheit. (Hah! Ich hätte also noch mehr Fernsehen gucken können!)
Allerdings schien das etwas in mir gelöst zu haben, diese Diagnose, vielleicht nach dem Motto: Es ist eine Krankheit, du kannst nix dafür, also leb dich aus!

Auf jeden Fall stiegen meine Tics in der Folgezeit rapide an. Von „Kopf-gegen-die-Wand-schlagen“  über Fluchen, Rumspucken und Herumspringen war alles dabei. Ich wußte nicht mehr wo mir der Kopf stand und dachte nur noch: „Wann hört das auf? Wo ist die Grenze? Werd ich noch den Zwang bekommen, jemanden zu verprügeln?!“

Vor den Reaktionen der Menschen auf der Straße hatte ich mit am meisten Angst.
Dumme Blicke, Angestarrt werden, Ausgelacht von halbstarken Jugendlichen in der U-Bahn...oh Man! Ich wollte, dass das alles aufhört! Sofort! Also ab zum nächsten Neurologen und sich schnell Tabletten „dagegen“ besorgt.

Ein sehr stressiges Herumprobieren diverser Psychopharmaka begann, wobei eines krasser und verrückter wirkte, als das andere.
Das wurde so schlimm, dass ich lieber die Krankheit akzeptierte als solche Nebenwirkungen ertragen zu müssen (Eines war sogar darunter, welches für totale Apathie und Gefühlslosigkeit sorgte...Grausam!).
Als die Krankheit auch nach Absetzen der Medikamente nicht mehr so stark wurde wie vorher, entschloss ich mich, mich an folgenden Leitspruch zu halten, dem ich bis heute treu geblieben bin:

Solange die Tourette-Krankheit sich nicht gegen sich selbst oder gegen Andere richtet und allein eine Frage der Akzeptanz ist, sollte man auf Medikamente verzichten!

Und an diesem Spruch ist echt was dran, wie ich finde...
...Jedenfalls flammten die Tics nicht mehr so stark auf und ich ging in die Offensive, um zu lernen, mit dieser Krankheit irgendwie umgehen zu können. Die Prüfungen des laufenden Semester waren eh vorbei und die Ferien standen bevor. Also alles kein Problem...

Unter anderem erzählte ich allen Freunden davon, ich suchte mir eine (sehr freundliche) Selbsthilfegruppe in Herne, redete mit einer Redakteurin der Hochschulzeitung,  ich ließ mich sogar dazu überreden einen kurzen Beitrag zum Thema Tourette für RTL Punkt 12 zu machen.
Zusammen mit einer Freundin, die toll an diesem Beitrag mitgewirkt hat, wurde das auch eine gelungene Sache und ich war unheimlich stolz auf mich.

Nun wurde es langsam Oktober, das neue Semester ging los und ich hatte eigentlich überhaupt keinen Bock auf Uni. Irgendwie war meine Krankheit gerade ein Fulltime-Job geworden...
...Naja, ich machte mir trotzdem einen Stundenplan und zwang mich zu den Vorlesungen.
Meine Freunde wußten zwar jetzt von der Erkrankung aber nicht die anderen 500 Mitstudenten.
Ich ging also zu den Sportvorlesungen (Ja! Da wird nicht nur um den Sportplatz gejoggt!) und versuchte, so gut es ging die Tics zu unterdrücken. Da kriegt man natürlich vom Stoff der Vorlesung nicht viel mit.
Ich vergleiche das Gefühl, einen Tic zu unterdrücken, immer gerne mit dem Gefühl, welches man bekommt, wenn man sein Portemonnaie verloren hat und das dann merkt.
Stress pur und kein klarer Gedanke mehr möglich.

Es hatte irgendwie alles keinen Zweck mehr...
Ich hatte keine Lust schon wieder einen Neurologen aufzusuchen und wendete mich stattdessen an das Behindertenbüro der Ruhr-Uni.
Mit einem sehr engagierten Mann des Büros hatte ich dann ein sehr langes Gespräch. Er sagte allerdings, dass ich mir „was Neues“ suchen sollte. Vielleicht einen anderen Studiengang oder eine Ausbildung, aber Keinen Richtung Lehramt...
Das war genug! Ich konnte nicht mehr. Mittlerweile hatte ich leider auch Stress mit meinen Nachbarn im Studentenwohnheim bekommen, die meine Schreie und mein Gestampfe im Zimmer nicht mehr ertragen konnten und ich war nervlich wirklich am Ende.

Trotz der positiven Erfahrungen in dieser Zeit, war die Krankheit doch auch sehr anstrengend. Die Aussicht etwas Neues anfangen zu müssen und der Stress mit den Nachbarn war dann einfach zuviel...Es war Mitte November 07 und ich ließ mich in eine Klinik in Bochum einweisen...

Dieser Schritt war nötig und anfänglich sehr gut. Mir war alles egal und ich war froh die Verantwortung über mein Leben erstmal „abgeben“ zu können.
Viel gebracht hat mir dieser Aufenthalt zwar nicht, doch ich begriff, dass es mehr erforderte mit der Krankheit zu leben, als nur ein paar Wochen in der Klinik zu sein. So entschloss ich mich einen zweiten Aufenthalt in einer psychotherapeutischen Klinik in Bremen anzuschließen und exmatrikulierte mich in Bochum.
Ich dachte mir: „Jetzt ist die beste Zeit dazu und erst lernst du die  Krankheit zu akzeptieren und dann schauen wir mal wie's weitergeht.“

Die Klinikzeit zog sich bis zum April 2008 hin. Ich ging nun schon wesentlich souveräner mit meiner Krankheit um und erzählte vielen Leuten meine Geschichte. Diese erzählten mir dann ihrerseits von sich und alles in allem war es eine sehr schöne und interessante Zeit.
Wahrscheinlich ist da der Wunsch, anderen Menschen zu helfen, in mir gewachsen.

„Hey, vielleicht kann ich in der Beziehung sogar Kapital aus dem Tourette schlagen, wenn ich Anderen helfen möchte. Immerhin hab ich ja nun auch ein bisschen was durchgemacht und weiß, wovon ich rede“, dachte ich mir und ließ den Wunsch „Soziale Arbeit“ zu studieren immer konkreter werden, schickte Bewerbungen ab und organisierte eine Praktikumsstelle in der Nähe von Krefeld.

Gewohnt habe ich zu der Zeit bei einem sehr, sehr guten Freund, dem meine Krankheit völlig egal war. Überhaupt kannte mich die meisten Leute im  Dorf nach einiger Zeit, sodass ich nicht mehr andauernd angestarrt wurde und im Mittelpunkt stand. Diese Zeit, also Mai bis August 08 war die erste Zeit seit langem, die ich als „normal“ bezeichnen würde.
Ohne ständiges Erzählen, krankhafter Neugier oder Anstarren der Mitmenschen, ohne Angst am Morgen, was der Tag wohl für mich bereit halten würde...Einfach normal.

Schließlich wurde ich in Paderborn an der Katholischen Hochschule angenommen. Das war auch die Hochschule an der ich mich zu aller erst beworben hatte. Als ich von der Zulassung erfahren hab, habe ich einen Luftsprung gemacht, vor Freude.

Mit gemischten Gefühlen ging dann auch der Umzug nach Paderborn von statten. Einerseits dachte ich, dass dies jetzt ein Neuanfang sein kann. Und die zurückliegenden Monate waren ja auch relativ normal verlaufen... trotzdem geisterten mir noch die Bilder aus meinem vorherigen Studium im Kopf herum und alte Ängste kamen hoch.

„Was ist, wenn es dort im Studentenwohnheim genauso Probleme gib wie im anderen Wohnheim? Was ist, wenn du keine Freunde findest? Was ist, wenn „das“ nicht das richtige ist?“.
Solche und ähnliche Fragen machten mir Angst. Gott sei Dank völlig umsonst, wie sich herausstellen sollte.
Das Studentenwohnheim, in welchem ich nun wohne, hat dicke Wände und ich hab im Vorfeld darauf bestanden, ein Zimmer im Erdgeschoss zu bekommen. Alle Mitbewohner wissen Bescheid über das Tourette, genauso wie die Kommilitonen des ersten Semesters und niemand stört sich daran.

Und auch der Studiengang selbst ist ziemlich interessant...also alles gut gegangen...
Natürlich ist auch in Paderborn nicht alles immer perfekt. Mir wurde z.B. verboten Blut zu spenden, weil Tourette „ja eine schwere neurologische Erkrankung sei und sie sich eventuell beim Abzapfen des Blutes verletzen könnten (O-Ton des Arztes)“ aber alles in allem ist es echt schön hier zu leben.

An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, dass ich es ohne meine Freunde und Familie nicht geschafft hätte, hier zu sein und diesen Text zu schreiben.
Natürlich gab es eine Menge Leute auf der Straße, die mich für völlig bekloppt gehalten haben, aber ich kann sagen, dass es für keinen meiner Freunde, ob alte oder neue, ein Problem dargestellt hat, dass ich Tourette habe.
Auch meine Familie hat es (mit einiger Anstrengung!) endlich verstanden und unterstützt mich nun, so gut sie eben können.
Der Grund, warum ich dies erwähne ist folgender: Für jeden der mich so kannte und kennt, wie ich bin, hat diese Krankheit keine Rolle gespielt.
Und jedem, dem ich in offener Weise von Tourette erzähle, findet diese Sache zunächst natürlich sehr interessant, nach einer gewissen Zeit ist aber auch das kein Thema mehr und ich werde wie ganz normaler Mensch behandelt.
Trotzdem liegt der Löwenanteil der Arbeit mit Tourette bei Jedem selbst, der darunter leidet.

Je eher man sich damit anfreundet und aussöhnt, umso mehr hat man von dieser Krankheit. Da hilft kein Sport, da helfen keine Medikamente und da helfen ganz sicher auch keine Rauschmittel oder sozialer Rückzug.
Man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass man zumindest in einem neuen Umfeld kurzzeitig im Mittelpunkt steht.

Allerdings bietet die Krankheit auch die Möglichkeit darüber nachzudenken, worauf es im Leben wirklich ankommt. Ist es wirklich der erste Eindruck? Sind es wirklich die Äußerlichkeiten oder ist es nicht doch der eigene Charakter und die eigenen Handlungen?

...Das Tourette kann also in mancher Hinsicht sogar eine Bereicherung sein für das eigene Leben. Allerdings ist das wie mit dem Tanzen: Man muss immer ein bisschen üben, sonst verlernt man irgendwann die wichtigen Schritte... ;)