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Gedanken eines TS-Betroffenen

Vortrag von Berthold Grave auf dem 1. Deutschen Tourette-Symposium am 26.September 1998

Liebe tourettekranke Freunde!

Für die möchte ich heute sprechen. Die anderen, die kein Tourette haben brauchen aber nicht gleich den Saal verlassen - sie können ruhig zuhören.

Ich will heute nicht von meinem Leidensweg mit dem Tourette sprechen; auch nicht davon, wie ich dem Bundeskanzler vielleicht an den "Piephahn" ticken würde. Ich möchte vom Tourette sprechen und von der Kehrseite der Medaille, von der Hoffnung, die uns tragen soll.

Anmerkungen zur Idee dieses Aufklebers

Tourette ist nett? - Nein - ganz und gar nicht. Tourette ist nicht nett. Tourette ist eine schreckliche Scheißerkrankung, die uns Betroffene immer wieder an uns selbst zweifeln läßt, uns demütigt, uns unserer Kräfte beraubt und immer wieder auf´s neue unseren Lebenswillen herausfordert - Tag für Tag!

Tourette ist nicht nur, daß wir grotesk zucken, herumzappeln, laut schreien und obszöne Worte herausschleudern und die unmöglichsten Zwänge haben. Mehr noch - es geht in die Tiefe des Seins:

  • Tourette ist jeden Morgen aufwachen und fürchten, was der Tag für uns bereit hält.
  • Tourette ist die Angst zur Schule zu gehen.
  • Tourette ist die Angst Einkaufen zu gehen.
  • Tourette ist nicht ins Kino und ins Theater zu gehen aus Angst vor den Reaktionen der Mitmenschen.
  • Tourette ist die Angst beim Autofahren von der Polizei angehalten zu werden und seinen Führerschein zu verlieren.
  • Tourette ist der Zweifel einen Lebenspartner zu finden, weil man denkt, daß man unattraktiv ist.
  • Tourette ist existenzielle Sorgen zu haben, weil man keine Arbeit bekommen wird, oder sie verlieren kann.
  • Tourette ist, daß die Eltern wieder genervt sind, weil man heute so viel tict.
  • Tourette ist von anderen Menschen gedehmütigt und diskriminiert zu werden.
  • Tourette ist der Zweifel daran, daß man überhaupt lebenswert ist.
  • Und vieles mehr.

Aber das Schlimmste ist, daß man sich selbst wegen dieser ganzen Widrigkeiten kaum lieben kann. Und das ist meiner Meinung nach das Wichtigste im Leben eines Menschen. - Die abgrundtiefe Traurigkeit darüber Tourette-Syndrom zu haben legt uns doch nur Ketten an, uns von unserem scheinbaren Makel zu befreien.

Unsere Wut darüber krank zu sein läßt uns nicht in Ruhe leben. - Laßt uns jegliches Selbstmitleid abschütteln, weil es uns nicht weiterhilft aus dem Dilemma herauszukommen.
Die Medizin hat kein wirksames Medikament gegen TS. Immer noch ist TS nicht heilbar. Das ist eine Tatsache, mit der wir uns konstruktiv auseinandersetzen müssen, aber nicht verzweifeln brauchen. Alle Dinge im Leben haben zwei Seiten. Das Tourette-Syndrom ebenso.

Wenn wir die negative Seite, die ich beschrieben habe, lange genug betrachtet haben und endlich die Schnauze vom Leiden voll haben, dann sollten wir irgendwann dazu kommen die Medaille umzudrehen und versuchen das Positive zu suchen.

Was nämlich eine Tatsache ist, ist, daß wir TS-Betroffenen Menschen sind, die humorvoll sind und Witz haben. Im Grunde sind wir sehr mutige und lebensbejahende Menschen. Wir sind kreative und phantasievolle Menschen. Das beweist alleine schon die Vielfältigkeit und die Perfektion unserer Tics. Die Tatsache, daß wir so wie wir sind unser Leben gestalten können und unseren Weg finden beweist, daß uns das Tourette-Syndrom auch viel Kraft gibt und einen starken Lebenswillen.

Ebenso haben wir, jeder auf seine Weise, in verschiedenen Richtungen unsere Talente. Sei es z.B. am Computer oder im Sport - (denkt nur an den amerikanischen NBA-Basketballer Machmuth Abduhl Rauf. Er ist der weltbeste Korbwerfer mit der größten Trefferquote.)

Und die Gabe solche Dinge so perfekt ausführen zu können liegt in unserem Tourette-Syndrom begründet. Mit anderen Worten gibt es also auch Vorteile die uns sehr erfreuen können.

Aber das zu erkennen brauchen wir Hilfe von anderen Menschen. Ich meine damit Freunde. Nicht Menschen die nett zu uns sind und uns sagen:"Na toll, heute ticst Du aber ganz wenig". Ich meine damit Menschen, die uns bestärken und uns so annehmen, wie wir sind; die uns aber auch konstruktive Kritik entgegen bringen. Davon findet man nicht viele, aber man trifft auf solche Menschen - Jeder von uns.

Ich habe solche Menschen gefunden auf meinem Weg und ich bin ihnen sehr dankbar, daß sie da waren. Ich traf sie in meiner Schulzeit, in meinem Studium und bei meiner Arbeit. Und immer, wenn ich dachte, daß es nicht mehr weitergeht, habe ich sie gefunden. Und ich möchte ihnen allen, ohne sie beim Namen zu nennen, dafür danken, daß sie mir auf ihre Weise geholfen haben.

Und das gleiche gilt für die Ärzte, die sich mit ihrer Kraft immer wieder neu ans Werk machen, uns TS-Betroffene Hilfe zukommen zu lassen.

Eine ganz andere Sache, von der ich sprechen möchte, ist die Öffentlichkeitsarbeit:
Stellt Euch vor, ihr kommt aus einem Einkaufszentrum heraus und am Ausgang wartet eine Frau mit zwei Kindern an der Hand und fragt ganz freundlich: "Haben Sie vielleicht Tourette-Syndrom?" Sie antworten ganz erstaunt mit "Ja, habe ich". Und die Frau sagt weiter:"Das ist eine schlimme Erkrankung, nicht wahr; aber ich wünsche Ihnen viel Mut amit zurecht zu kommen!"

Stellen Sie sich vor, sie steigen zur Nachtfahrt in einen Bus und der Busfahrer sagt sehr nett zu Ihnen: "Oh, Sie haben Tourette-Syndrom! Ist es Ihnen vielleicht möglich, etwas zur Ruhe zu kommen, damit die anderen Fahrgäste wohl schlafen können?"...
Das gibt es in Deutschland noch nicht! - Ich habe es hier jedenfalls noch nicht erlebt. Aber so habe ich es in Kanada erlebt. Ich bin 1993 dort gewesen und habe den bekannten tourettekranken Chirurgen Morten Doran besucht, der von Oliver Sacks in dem damaligen "Geo-Magazin"-Artikel beschrieben wurde. In Kanada habe ich mit meinem TS so manche Erfahrungen gemacht, aber die schönste war, daß ich nach zwei Wochen ganz vergessen hatte, daß ich überhaupt TS habe. Weil die Menschen dort ganz normal reagiert haben, bzw. auf meine Tics gar nicht reagiert haben, weil sie informiert sind.

Ich denke mal, daß dieser positive Umstand der intensiven Öffentlichkeitsarbeit zu verdanken ist, die in Kanada betrieben wurde und noch wird.

Mit einem alten T-Shirt und abgeschnittenen Jeans war ich in einem First-Class-Hotel und wurde freundlichst von dem Conferencier empfangen. Dem Dreiundzwanzigjährigen war das TS ebenfalls nicht fremd. Auf meine Frage, woher so viele Menschen in Kanada die Tic-Erkrankung kennen antwortete er mir, daß seit einigen Jahren an den kanadischen Schulen in der zehnten Klasse über neurologische Besonderheiten unterrichtet wird, damit die Schüler darauf vorbereitet sind, wenn sie einmal auf Menschen treffen, die etwas ungewöhnliche Verhaltensweisen zeigen und richtig darauf reagieren können - nämlich am besten gar nicht.

Ich bin der Meinung, daß Öffentlichkeitsarbeit eine sehr wichtige Sache für uns ist. Es ist wichtig, daß Frau Meier von nebenan nicht mehr denkt, daß wir "bescheuert" sind; es ist wichtig, daß Frau Meier irgendwann erfahren hat, daß wir eine neurologische Erkrankung haben, aber sonst noch ganz gut beisammen sind.

Wir sind in Deutschland so langsam auf dem Wege, daß wir da hin kommen. Zumindest mache ich die Erfahrung, daß es heute schon wesentlich mehr Mitmenschen gibt, die vom TS gehört haben, als es vor fünf Jahren der Fall war. Im Fernsehen wurden mittlerweile schon ca. 15 Berichte ausgestrahlt, die über unsere Erkrankung informierten. Ebenso gab es etliche Artikel in den verschiedensten Zeitungen und Magazinen. Es sind zwar häufig kleinere Berichterstattungen und Beiträge, aber ich denke, die Menge machts und wenn es so weitergeht, wird sicherlich etwas dabei herauskommen.

Vor 20 Jahren wußten die wenigsten Leute mit MS etwas anzufangen; heute weiß fast jeder, daß es Multiple Sklerose heißt. Und ich träume davon - und ich denke, daß es vielleicht in fünf oder in zehn Jahren soweit ist - daß die Menschen in Deutschland dann auch unter dem Kürzel "TS" etwas verstehen und sie wissen, daß es sich um das Tourette-Syndrom handelt. Und ich denke das sollte unser aller Ziel sein in der TGD. Aber bis das soweit ist gibt es noch viel zu tun und ich hoffe, daß sich noch viele aktive Mitglieder finden werden, die bereit sind daran mitzuarbeiten.

An der allgemein fehlenden Toleranz in Deutschland können wir wohl nichts ändern, jedoch gibt es viele tolerante Menschen und es ist wichtig sie anzusprechen, damit es uns auf Dauer in der Öffentlichkeit etwas leichter gemacht wird.

Wo ich gerade bei Toleranz bin, muß ich sagen, daß es nicht nur darum geht, daß andere Menschen zu uns TS-Kranken tolerant sein müssen, sondern daß auch wir denjenigen gegenüber Toleranz aufbringen müssen, die noch uninformiert über das TS sind und ihre Witze über uns machen. Wir dürfen nicht gleich jedem unseren vollen Haß und unsere Wut entgegenschleudern, der durch unsere symptomatischen Verhaltensweisen irritiert ist.
Es gibt halt noch viele Leute, die unser Syndrom noch nicht kennen, und ich denke, daß wir noch in der Situation sind, in der wir einen gewissen Toleranzvorschub leisten müssen, um später Toleranz ernten zu können.

Zu dem Thema Akzeptanz der Krankheit und dazu, daß es uns mit uns selber ein bischen besser gehen soll, wenn wir nach einem schlimmen Tag mal so richtig wieder die "Schnauze" voll haben, habe ich mir in der vergangenen Woche ein paar Gedanken gemacht und eine Art Bekenntnis niedergeschrieben, das etwas Hoffnung in uns wecken soll. Mit diesen Worten möchte ich meinen Vortrag auch beenden:

Jeden Morgen
mit geöffnetem Herzen und
einem wachen, mutigen JA
glaube ich neu,
daß es möglich ist,
ein Leben lang damit zu leben;
gegen alle Enttäuschungen,
gegen alle Diskriminierung,
gegen alle Verzweiflung

Jeden Morgen
mit geöffnetem Herzen und
einem mutigen JA
glaube ich neu
an den Sinn
mein Tourette-Syndrom zu akzeptieren;

weil ich lernen will
mich selber zu lieben
so wie ich bin!

Ich danke Ihnen für´s zuhören....Tschüß.