Eltern und Tourette
von Elisabeth Heinen
Es fängt ganz harmlos an: Hier ein kleines Augenzwinkern, da ein Gähnen oder vielleicht eine ruckartige Bewegung. Die Tics werden stärker, sie wiederholen sich, wechseln, kommen immer öfter.
Sie sind nicht mehr harmlos!
Sie hören nicht mehr auf, da hilft auch kein Nichtbeachten und kein Wegsehen mehr. Sie sind da. Sie stören und manchmal sind sie uns auch ein bisschen peinlich.
Jetzt geht die Ursachensuche los. Verwöhntes Einzelkind, Geschwisterrivalität, Erziehungsfehler, falsche Ernährung, berufstätige Mutter?
Am Ende der Suche die Diagnose "Tourette".
Man glaubt, eine Welt bricht zusammen, aber immerhin hat das Kind jetzt einen Namen. Nun bitte eine schnelle wirksame Behandlung und alles ist wieder wie früher. Aber jetzt spielen die Tics nicht mit. Sie verschwinden nicht, sie verändern sich öfters, werden mal weniger - wir atmen auf - , dann wieder mehr, passen sich an, gehen uns oft auf die Nerven, machen uns Angst, gehen über unsere Kraft.
Wir Eltern leiden, leiden für das Kind mit, wollen es beschützen, merken, dass wir das nicht können und leiden noch mehr.
Fazit: Die Tics müssen weg!
Wir setzen uns unter Erfolgsdruck und setzen damit, ohne es zu wissen, einen Teufelskreis in Gang. Je mehr wir den Behandlungserfolg erzwingen wollen, desto mehr üben wir Druck auf das Kind aus, das wir doch eigentlich beschützen wollen. Denn das Kind spürt sehr genau, wie sehr wir unter der Krankheit leiden und möchte es uns doch recht machen, kann unseren Erwartungen jedoch nicht gerecht werden ............ und die Tics werden stärker.
Lange habe ich geglaubt, meine Tochter leide selbst am meisten unter ihren Tics, sei Hänseleien und Schlimmerem ausgesetzt. Da sie selber nie über die Tics sprechen wollte, habe ich erst durch Zufall erfahren, daß sie die Sache viel lockerer als ich angeht. Klar stören sie die Tics auch, aber doch längst nicht so sehr, wie ich immer gedacht habe oder wie sie mich gestört haben. Irgendwann habe ich dann angefangen, mir die Frage zu stellen, warum die Tics denn unbedingt verschwinden sollen, wenn meine Tochter doch relativ unbeschwert damit leben kann. Sicher, sobald Schwierigkeiten in Schule oder Beruf auftreten, sind wir gefordert zu helfen. Aber solange die Kinder keine oder wenig Probleme mit Tourette haben, sollten wir meiner Ansicht nach unsere persönlichen Empfindungen auch ruhig mal etwas zurückstellen und lernen, unseren Kindern gegenüber etwas toleranter zu sein und dies nicht nur von unserer Umwelt erwarten.
Fällt ein Tourette-Kind aufgrund seiner Tics in der Öffentlichkeit auf, so ist dies zwar eine besondere Situation aber kein Weltuntergang. Je mehr wir uns davon befreien, uns immer und überall für die Tics unserer Kinder verantwortlich und opferbereit zu fühlen, um so leichter können wir mit den Tics leben, zumal die Kinder immer bessere Techniken entwickeln, mit der Krankheit zurecht zu kommen. Je entspannter wir uns im Umgang mit Tourette verhalten, um so weniger Stress erzeugen wir in unseren Kindern, die sich dann auch mit ihren Tics angenommen fühlen können.
Zugegeben, zu dieser Ansicht bin ich erst nach einem langen Denkprozess und vielen, vielen Gesprächen mit anderen gekommen. Richtig in Gang gekommen ist dieser Prozess auch erst, als wir schon etwas Sicherheit im Umgang mit Tourette gewonnen hatten. Anfangs bin ich gegen Wände gerannt und konnte doch nichts gegen die Krankheit ausrichten. Heute lasse ich mich etwas mehr vom Instinkt meiner Tochter leiten und wir fahren beide gut damit. Natürlich müssen und können wir Eltern unsere Kinder in der Behandlung von Tourette unterstützen. Ich denke aber, wir sollten uns davor hüten, unsere Kinder aus falsch verstandenem Beschützertrieb vor allen Krankheitssymptomen bewahren zu wollen, wenn die Kinder sich gar nicht so krank fühlen und eigentlich recht gut mit der Krankheit zurecht kommen. Speziell wir Mütter können hier vielleicht auch von den etwas "schwerfälligeren" Vätern lernen.
Quelle: Mitgliederzeitung der Tourette-Gesellschaft Deutschland "Tourette Aktuell" Nr. 4