Was ist das Tourette-Syndrom?

Das Tourette-Syndrom (TS) ist eine neuropsychiatrische - Erkrankung, die durch Tics charakterisiert ist. Bei den Tics handelt es sich um unwillkürliche, rasche, meistens plötzlich einschießende und mitunter sehr heftige Bewegungen, die immer wieder in gleicher Weise einzeln oder serienartig auftreten können.

Die Symptome beinhalten:

  1. sowohl multiple motorische (Muskelzuckungen) als auch einen oder mehrere vokale (Lautäußerungen) Tics. Diese stellen sich im Verlaufe der Erkrankung ein, obwohl sie nicht notwendigerweise gleichzeitig vorkommen müssen.
  2. das Auftreten von Tics mehrfach am Tag (gewöhnlich in Serien), fast jeden Tag oder immer wieder über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr.
  3. periodische Wechsel hinsichtlich Anzahl, Häufigkeit, Art und Lokalisation der Tics wie auch hinsichtlich des Zu- und Abnehmens ihrer Ausprägung. Die Symptome können manchmal für Wochen oder Monate verschwinden, aber auch unvermutet wieder auftreten.
  4. Die Erkrankung beginnt meistens im siebten oder achten, fast immer aber vor dem 21. Lebensjahr.

Die Bezeichnung "unwillkürlich", die zur Beschreibung der Tics verwandt wird, führt manchmal zu Mißverständnissen, da die meisten Personen, die von einem TS betroffen sind, eine gewisse Eigenkontrolle über ihre Symptome haben. Vielfach bedeutet Eigenkontrolle, die für Sekunden bis Stunden vom Patienten wahrgenommen werden kann, in der Regel nur ein zeitliches Hinausschieben schwerer "Tic-Entladungen" und führt selten dazu, daß der unterdrückte Tic überhaupt nicht nach außen kommt. Meist ist der Drang nach der Ausübung des Tics so stark, daß schließlich die Muskelzuckung oder die Lautäußerung doch stattfinden muß (vergleichbar mit dem Drang zum Niesen bzw. mit einem Schluckauf). Menschen mit einem TS suchen oft eine geschützte Umgebung (z.B. Familie), um ihren Symptomen freien Lauf zu lassen, nachdem sie versucht haben, sie bei der Arbeit oder in der Schule zu unterdrücken. Typischerweise nehmen Tics bei ärgerlicher oder freudiger Erregung, innerer Anspannung oder Streß zu. In entspanntem Zustand (z.B. morgens nach dem Aufstehen) oder bei Konzentration auf eine interessante Aufgabe lassen sie eher nach. Kinder zeigen oftmals in der Schule weniger Tics als zu Hause; insbesondere am Abend, wenn die spontane Eigenkontrolle nachläßt, können die Tics vermehrt zum Vorschein kommen.

Wie werden Tics klassifiziert?

Grundsätzlich kann man von vier Kategorien der Tics sprechen, von denen einige Beispiele angeführt sind:

Einfache Tics:

motorisch - Augenblinzeln, Kopfrucken, Schulterrucken, Grimassieren
vokal - räuspern, fiepen, quieken, grunzen, schnüffeln, Zunge schnalzen

Komplexe Tics:

motorisch - springen, Berührung anderer Leute oder Dinge, riechen, Körperverdrehungen, manchmal selbstverletzendes Verhalten (z.B. sich schlagen, kneifen, Kopf anschlagen).

vokal - herausschleudern von Worten und kurzen Sätzen, die nicht im logischen Zusammenhang mit dem Gesprächsthema stehen, Koprolalie (Ausstoßen obszöner Worte), Echolalie (Wiederholung von Lauten bzw. Wortfetzen, die gerade gehört wurden), Palilalie (Wiederholung von gerade selbst gesprochenen Worten), Kopropraxie (Ausführung obszöner Gesten).

Die Bandbreite der Tics oder Tic-ähnlicher Symptome, die bei einem TS festgestellt werden können, ist sehr weit gefächert, die Komplexität mancher Symptome ruft oft bei Familienmitgliedern, Freunden, Lehrern oder Mitarbeitern großes Erstaunen, Verwunderung und Ärger hervor. Viele Nicht-Betroffene können sich nicht vorstellen, daß diese Handlungsweisen und Lautäußerungen tatsächlich unwillkürlich seien. Manche Personen fühlen sich durch die Tics provoziert; insbesondere wenn es sich um Koprolalie/Kopropraxie handelt.

 

Wie kann man den Ablauf eines Tics veranschaulichen?

Welche Reaktionsmuster ablaufen, wenn sich ein Tic entläd, und wie die Betroffenen das erleben, kann man vielleicht am ehesten mit einem Schluckauf vergleichen. Wir können den Schluckauf zwar für eine gewisse Zeit unterdrücken, aber wir spüren, daß der Druck im Zwerchfell immer stärker wird, und nach kurzer Zeit müssen wir ihm schließlich nachgeben. Dann geht eine Art Zucken durch unseren Körper, das mit den Tics vergleichbar ist. Vielleicht haben Sie auch schon einmal erlebt, daß abends, wenn Sie im Bett liegen und einschlafen wollen, ein Zucken durch den ganzen Körper geht. Danach ist man dann entspannt und kann schlafen. Eine solche Zuckung zu verspüren ist dem Erleben eines Tics ähnlich.

Was verspürt ein Betroffener von seinen Tics?

Oft bemerken Kinder ihre Tics anfangs selber gar nicht. Es sind meistens die Mütter, die aufmerksam werden, sich gestört fühlen, sich Sorgen um das Kind machen und (unnötigerweise) überlegen, ob sie Erziehungsfehler gemacht haben. Etwa ab dem 10. Lebensjahr werden vielfach gewisse Vorgefühle (z.B. Kribbeln im Bauch, Spannungsgefühl im Nacken-Schulterbereich) unmittelbar vor einem Tic wahrgenommen. Dies kann bis zu einem "sensorischen Tic" reichen, der nach einer Bewegungsantwort verlangt. Ansonsten nehmen die Betroffenen ihre Muskelzuckung bzw. Lautäußerung erst wahr, wenn sie schon in der Ausführung begriffen ist; manchmal (bei leichter Ausprägung) noch nicht einmal dies. Nur selten kommt es als Folge der Tics zu körperlichen Beschwerden wie Nackenschmerzen. Bei Tics mit selbstverletzendem Verhaltem (z.B. schlagen gegen Brust und Wange, kneifen an den Unterarmen) kann es allerdings zu größeren Verletzungen kommen.

Hat man im Schlaf auch Tics?

Während des Schlafs (manchmal schon im Liegen während des Wachseins) nehmen die Tics deutlich ab. Dennoch kann man auch im Schlaf Tics beobachten, ohne daß sich der Betroffene am nächsten Morgen daran erinnert.

Haben alle Personen mit einem TS zusätzlich andere Verhaltensprobleme neben den Tics?

Nicht alle, aber doch ein großer Anteil der Menschen mit TS haben zusätzliche Probleme wie z.B.:

Zwanghafte Verhaltensweisen, Perfektionismus und ritualistisches Verhalten.
Dabei hat die betroffene Person z.B. das Gefühl, daß manches immer und immer wieder getan werden muß, bis es "genau richtig" ist, dies kann auch für eine Tic-Bewegung gelten. Es kann auch Berühren von Dingen beinhalten, die z.B. mit einer Hand berührt werden und dann mit der anderen ebenfalls berührt werden müssen, um "die Dinge gleich zu machen" oder "Symmetrie herzustellen" bzw. "eine innere Melodie zu finden". Es kann auch sein, daß die betroffene Person wiederholt prüfen muß, ob der Herd ausgeschaltet ist, die Tür richtig geschlossen ist, etc. Kinder bitten manchmal ihre Eltern, einen Satz mehrfach zu wiederholen, bis er "richtig klingt", oder Bettgehrituale zu wiederholen, weil sie "nicht stimmten." Beim Perfektionismus muß der Betroffene seinen Drang in Bewegung umsetzen bis er eine Rückmeldung erhält, die diesen inneren Drang zufriedenstellt, dann ist ein Moment Ruhe. Wird diese Perfektion nicht gefunden, ist der Betroffene irritiert, wird innerlich unruhig, und greift vielleicht zu anderen ritualistischen Verhaltensweisen.

Aufmerksamkeitsprobleme (Hyperkinetisches Syndrom)
Hyperaktivität mit oder ohne Störung der Aufmerksamkeit findet sich bei vielen Personen mit TS. Bei Kindern können Zeichen der Hyperaktivität gesehen werden, bevor TS-Symptome auftreten. Indikatoren für ein Hyperkinetisches Syndrom beinhalten: Allgemeine motorische Unruhe, Schwierigkeiten mit der Konzentration; Probleme, angefangene Dinge zu Ende zu bringen; nicht zuhören zu können; leicht ablenkbar zu sein; oft handeln, bevor nachgedacht wurde; stetiger und rascher Wechsel von einer Aktivität zur anderen, noch bevor sie beendet ist; Rededrang. Die Kinder benötigen viel Aufsicht und Steuerungshilfen von außen. Erwachsene können ebenfalls noch Zeichen eines Hyperkinetischen Syndroms aufweisen wie mangelnde kognitive oder emotionale Impulskontrolle sowie Konzentrationsschwierigkeiten. Bei solchen Patienten wird der Tic oft stärker, wenn ein anderer spricht und der Tic-Patient Zuhörer ist; die Bewegungskontrolle läßt nach, wenn er nicht selbst agiert oder aktiv ist bzw. wenn viel Konzentration für andere geistige Tätigkeiten gebraucht wird und somit nicht zur Kontrolle der Tics verfügbar ist.

Lernschwierigkeiten
wie Störungen des Lesens, des Schreibens und Rechnens sowie Probleme der differenzierten Wahrnehmung (z.B. Figur-Hintergrund Unterscheidung komplexer Art); meist verbunden mit einem Hyperkinetischen Syndrom.

Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle
Es kann in seltenen Fällen zu sehr aggressiven (Worte, Handlungen) oder auch sozial unerwünschtem Verhalten kommen.

Schlafstörungen und Depressivität
sind manchmal ebenfalls bei Personen mit TS zu finden. Dies beinhaltet Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Lustlosigkeit, Rückzugsverhalten, Einschlafschwierigkeiten, häufiges nächtliches Erwachen oder auch Schlafwandeln bzw. Sprechen im Schlaf.

 

Welchen Bezug hat die "Koprolalie" (Ausstoßen obszöner Worte) zur Umgebung?

Um die Hintergründe dieses Phänomens ranken sich viele Spekulationen. Diese reichen vom zufälligen Auftreten obszöner Worte bis zu (teilweise willentlichen) Provokationen. So wie motorische Tics durch das 'Darübersprechen' verstärkt werden können, kann die Koprolalie durch die Anwesenheit bestimmter Personen ausgelöst und gelenkt werden. Z.B.: Eine Jugendliche äußert ihre Koprolalie (z.B. "Sau") häufiger, wenn die Mutter redet. Andere Worte (z.B. "ficken") platzen eher zufällig in die Satzpausen.

Kann ein Tourette-Kranker auch Vorteile durch seine Krankheit haben?

Einige - meistens sind es junge Betroffene mit allgemeiner motorischer Unruhe- fallen besonders durch ihre gute Reaktionsfähigkeit und ihren Bewegungsdrang auf (z.B. beim Schlagzeug spielen, Tischtennis, Karate, Basketball). Zu erklären ist dies möglicherweise dadurch, daß weniger Hemmungen von Bewegungsmustern vorliegen. Wenn jemand weniger zentralnervöse motorische Hemmungsmechanismen hat, dann lassen sich eher Bewegungen auslösen; vor allem wenn der Wunsch und Drang nach Bewegung stetig vorhanden ist und auf Umsetzung in Handlung wartet. Dies gilt nur für wenige Betroffene. Rekationszeiten von TS-Patienten unterscheiden sich generell nicht von denen einer gesunden Vergleichsgruppe. Nur selten versuchen einige TS-Patienten ihre Erkrankung einzusetzen, um sich vor Anforderungen des Alltags zu schützen.

Gibt es Dinge, die ein Tourette-Kranker auf Grund seiner Krankheit nicht tun kann?

So verschieden das Bild eines TS sein kann, so verschieden sind die Persönlichkeiten, die von einem TS betroffen sind. Ein Kind mit einem TS ist fast immer ebenso leistungsfähig wie seine Altersgenossen und kann entsprechend seine Zukunftswünsche entwickeln. Ob Sport, Musik, Gruppenaktivitäten, Reisen u.ä., ein TS-Patient braucht nicht zurückzustehen. Auch die Erwachsenenberufe stehen alle offen und viele Beispiele von Lehrern, Handwerkern, Ingenieuren, Ärzten, Kaufleuten, Berufssportlern, Schriftstellern, Musikern, Piloten etc. bestätigen dies. Denn, so die Aussage von TS-Patienten: "Ich habe zwar das TS, aber das TS hat mich nicht!"

Gibt es eine berufliche Beeinträchtigung durch die Krankheit?

In der Regel: Nein! Nur bei besonders schwerer Ausprägung (z.B. Neigung zu selbstverletzendem Verhalten, Zwangsverhalten) kann dies vorkommen. Bei Berufen mit Publikumsverkehr können die Tics, insbesondere die vokalen, manchmal Einschränkungen der Berufsausübung mit sich bringen.

Was sind die ersten Symptome?

Am häufigsten findet sich zuerst ein Gesichts-Tic wie z.B. Augenblinzeln, plötzliches rasches Augen zusammenkneifen, Verziehungen des Mundwinkels oder plötzliches Mundöffnen. Es können aber auch unwillkürliche Lautäußerungen wie Räuspern und Nase rümpfen oder Muskelzuckungen im Extremitätenbereich (z.B. plötzliches symmetrisches Armbeugen) als erste Zeichen gesehen werden. Manchmal beginnt die Störung abrupt mit mehreren Symptomen, d.h. Muskelzuckungen und Lautäußerungen treten nahezu gleichzeitig auf.

Kann es passieren, daß man als Betroffener Tics von anderen TS-Personen übernimmt?

Durchaus. Einzelne TS-Patienten berichten, daß sie ein Treffen mit Betroffenen meiden, weil sie nach einem solchen Erfahrungsaustausch (z.B. bei einer Veranstaltung der Tourette-Gesellschaft Deutschland) mit zusätzlichen Tics, die sich bei ihnen "eingenistet" hätten, belastet seien und Wochen benötigen würden, um diese "fremden Tics" wieder loszuwerden. Die Erklärung für diesen Sachverhalt liegt wahrscheinlich im zwanghaften Verhalten, das mit dem TS verbunden sein kann. Der TS-Patient fühlt sich offenbar von den Tics des Gegenüber wie magnetisch angezogen, so daß sich die motorische Verhaltensweise unwiderstehlich im Gehirn als Bewegungsmuster festsetzt und durchgeführt werden muß. Es kann auch sein, daß ein TS-Patient willentlich eine bestimmte Handlung durchführt (z.B. küssen, etwas berühren) und diese umschriebene Handlung sich für einige Zeit als Tic verfestigt.

Was passiert im Gehirn, wenn ein Tic entsteht?

Eine bestimmte Ansammlung von Nervenzellen in unserem Gehirn (Basalganglien) ist wesentlich mitverantwortlich für die Kontrolle von Bewegungen. Wenn diese Bewegungskontrolle aufgrund einer Störung spontan nicht ausreichend erfolgen kann, dann passiert es, daß Bewegungsmuster in Form von Tics nach außen gelangen. Will jemand die Tics als Bewegungsmuster nicht zulassen, muß er willentlich andere Bereiche seines Gehirns (Stirnhirn) einsetzen und aktivieren, um die mangelnde Kontrolle in den Basalganglien auszugleichen. Beim Vokaltic können bestimmte Muster von Lautäußerungen vom Gehirn nicht mehr gebremst werden. Selbst, wenn der Betroffene merkt, daß eine solche Lautäußerung "auf dem Weg ist", kann er sie nicht mehr stoppen. Die meist extreme Lautstärke ist ein explosionsartiges Herausknallen von Lauten, manchmal auch von Wörtern, die als Gesamtmuster in unserem Gehirn vorhanden sind. Sie werden dort angestoßen, nicht automatisch gebremst und geraten dann unkontrolliert nach außen.

Was verursacht die Symptome?

Die Ursache ist bisher noch nicht gefunden. Wir wissen aber einiges über die Stellen im Gehirn (Basalganglien), an denen sich bei TS-Patienten Auffälligkeiten zeigen, und über die Stoffwechselvorgänge im Gehirn, die aus dem Gleichgewicht geraten sind. Die derzeitigen Forschungsergebnisse sprechen dafür, daß bei dem TS ein gestörter Stoffwechsel von zumindest einer chemischen Substanz im Gehirn vorliegt. Es handelt sich dabei um das Dopamin. Dies ist ein sogenannter Neurotransmitter, ein Überträgerstoff in unserem Gehirn, der für die Informationsweiterleitung (z.B. im Rahmen von Bewegungsprogrammen) wichtig ist. Man vermutet aber, daß auch andere Neurotransmitter, z.B. Serotonin, ebenfalls betroffen sind und somit ein Ungleichgewicht der zentralnervösen Botenstoffe vorliegt, welches z.B. durch die medikamentöse Behandlung wieder ausgeglichen werden kann.

Ist das Tourette-Syndrom vererbbar?

Aktuellen Erkenntnissen zufolge wird neben einer nicht-genetischen Form, eine genetische Form des Tourette-Syndroms vermutet. Wissenschaftler haben Hinweise darauf erhalten, dass Mutationen in einem oder mehreren Genen für das Tourette-Syndrom verantwortlich sein könnten.

In der Wechselwirkung dieser vermuteten Gene, d.h. der erblichen Anlage zum TS, mit anderen Faktoren (z.B. Umwelteinflüsse wie Infektionen, Reifung) könnte die Verschiedenartigkeit der Symptomatik und die unterschiedliche Ausprägung begründet werden.

Wenn ein erkrankter Elternteil die nicht notwendigerweise vorhandene Erbanlage für das Tourette-Syndrom in sich trägt, wird vermutet, dass sein Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 5-10% von Tics (nicht zwangsläufig von dem Vollbild eines Tourette Syndroms!) betroffen sein kann.

Es ist bekannt, daß sich in den Familien von Menschen mit Tourette überzufällig häufig Familienmitglieder in den Generationen davor mit leichten Tic-Störungen und zwanghaften Verhaltensweisen finden.

Das Geschlecht der Kinder beeinflußt ebenfalls, wie das Gen wirksam wird. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Kind mit einem TS-Gen Symptome entwickeln wird ist drei bis viermal höher bei einem Jungen im Vergleich zu einem Mädchen. Lediglich etwa 10% der Kinder, denen ein TS-Gen vererbt wurde, bilden eine schwer ausgeprägte TS-Symptomatik aus.

Neben der erblichen Form des TS gibt es aber auch nicht-erbliche Formen, d.h. sogenannte sporadische Formen des TS. Die Ursachen sind bis jetzt völlig unbekannt. In manchen Fällen könnte eine Entzündung im Gehirn stattgefunden haben und das irritierte Gehirn antwortete auf diese Entzündung mit den genannten Symptomen.

Sind Tourette-Kranke gefährlich für ihre Umgebung?

Nein! Manche gefährden eher sich selbst. Ist ein TS-Patient aggressiv, hat er Wutausbrüche, Wutimpulse, dann sind es meistens Impulse zum selbstverletzenden Verhalten. Oder: Motorische Tics beinhalten schlagen gegen den eigenen Körper bzw. Schlagen des Kopfes gegen die Wand.

Wie ist es mit Aggressionen beim Tourette-Syndrom?

Sie stehen vielfach im Zusammenhang mit den Zwangsimpulsen, die andrängen und bestimmte Handlungen fordern. Oftmals kommt es zu einer Unzufriedenheit, weil der Tic bzw. der Zwang nicht so umgesetzt werden kann, wie es der innere Drang vorgibt. Dadurch kommen oft Zuckungen und Lautäußerungen zustande, die "genau daneben liegen". Dies kann dann dazu führen, daß der Patient eine mangelnde emotionale Impulskontrolle, also eine mangelnde Kontrolle der aufwallenden Gefühle, erlebt. Das wiederum kann schnell zu aggressiven Tendenzen führen. Kaum gegen andere Menschen gerichtet. Tourette-Patienten passiert es eher, daß sie sich selbst vermehrt und vehement gegen die Brust oder gegen die Wange schlagen, weil sie einfach dieser Impulse nicht mehr Herr werden können. Allerdings drängen Tics mitunter gerade dann an, wenn sie in der Situation provokativ wirken können (z.B. Lautäußerungen in schweigender Umgebung; Muskelzuckungen beim Essen).

Was unterscheidet den Tic von einer Marotte?

Den Tic kann man zwar über einen gewissen Zeitraum unterdrücken, man kann ihn sich jedoch nicht abgewöhnen. Über das Verschwinden und Wiederauftreten eines Tics hat der Patient keine Kontrolle. Eine Marotte kann man sich - mit einiger Willensstärke - abgewöhnen, so daß die unerwünschte Verhaltensweise nicht mehr auftritt.

Wie soll die Umwelt - die sogenannten "Normalen" - mit einem Tourette-Kranken umgehen?

Die Umgebung sollte versuchen, die sachliche Information, die sie von einem Betroffenen über seine Krankheit erhält, aufzunehmen und zu verstehen. Dann kann man erkennen, daß hinter den ins Auge springenden Tics interessante Persönlichkeiten stecken, die genauso ernst genommen werden wollen und können wie jeder andere Mensch auch; mit denen man genauso umgehen kann und soll wie mit anderen Personen des Umfeldes.

Wie wird ein Tourette-Syndrom diagnostiziert?

Die Diagnose wird gestellt, wenn die entsprechenden Symptome beobachtet werden und der bisherige Verlauf der Erkrankung für ein TS spricht. Es gibt keinerlei Blutanalyse oder irgendeine andere Art neurologischer oder psychologischer Untersuchungsverfahren, die die Diagnose eines TS erlauben. Um das TS von anderen neuropsychiatrischen Erkrankungen sicher abgrenzen zu können, sind in manchen Fällen ein Elektroencephalogramm bzw. sonstige medizinische Untersuchungen sinnvoll. Fragebogen und Schätzskalen sind verfügbar, um Art und Weise sowie Schweregrad der Tic-Störung besser beurteilen zu können.

Gibt es eine Therapie, die zur vollkommenen Heilung führt?

Bisher leider nicht.

Wie sieht der Krankheitsverlauf beim Tourette-Syndrom aus?

Die Tics treten in aller Regel um das 7. Lebensjahr erstmals auf, nehmen dann einen wechselnden Verlauf (meist allmähliche Zunahme), verstärken sich während der Pubertätszeit, um zwischen dem 16. - 26. Lebensjahr meistens wieder nachzulassen. Bei einigen Betroffenen verschwinden die Tics vollständig; wenige Personen müssen versuchen, ein Leben lang mit den Tics zurechtzukommen. Es besteht eine normale Lebenserwartung.

Darf man mit einem Rückgang der Beschwerden rechnen?

Vielen Personen mit einem TS geht es im Laufe ihrer Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen besser. Diese Chance haben etwa 70% der Betroffenen. Besonders diejenigen, die leicht betroffen sind. In Einzelfällen wurde auch schon von einer vollständigen und endgültigen Rückbildung der Symptomatik berichtet.

Wie würde man einen typischen Fall von Tourette-Syndrom beschreiben?

Das Wort "typisch" kann nicht ohne weiteres auf das TS angewendet werden. Die Symptomatik zeigt sich in einem breiten Spektrum von sehr milden Formen (und dies gilt für die meisten betroffenen Menschen) bis hin zu sehr schweren Formen, die von nur wenigen Personen durchlitten werden müssen.

Wie wird das Tourette-Syndrom behandelt?

Die Mehrheit der Personen, die ein TS zeigen, sind durch diese Tics oder ihre Verhaltensschwierigkeiten nicht wesentlich beeinträchtigt und benötigen deswegen keinerlei Medikation oder sonstige fachlichen Hilfen. Schwere Formen motorischer und vokaler Tics werden z.T. mit Medikamenten behandelt, wenn die Tics für den Betroffenen und seine Familie eine besondere Belastung darstellen. In der Regel werden die Medikamente in niedrigen Dosen verabreicht, um mit allmählicher Erhöhung der Menge den Punkt zu erreichen, zu dem die beste Wirkung mit geringsten Nebenwirkungen vorliegt. Siehe 'Behandlung des Tourette Syndroms'

Welche Nebenwirkungen haben diese Medikamente?

Einige unerwünscht Reaktionen auf die Medikamente können Gewichtszunahme, Müdigkeit, leichte motorische Unruhe oder schmerzhafte Muskelsteifheit sein. Manchmal beinhalten Nebenwirkungen auch Lustlosigkeit, Depressivität, Schwunglosigkeit, Neigung zum Rückzugsverhalten und Minderung der geistigen Aktivität. Hier sollte eine Verminderung der Dosierung oder ein Wechsel des Medikamentes in Betracht gezogen werden. Siehe 'Behandlung des Tourette Syndroms'

Wie lange soll man Medikamente einnehmen?

Hat man sich zur Medikation entschlossen, so sollten die Medikamente mindestens ein Jahr lang eingenommen werden, ehe man über die Fortführung oder das Absetzen entscheidet. Im Falle der Fortführung einer medikamentösen Behandlung sollte man jedes Jahr diese Frage erneut prüfen. Es ist ratsam, die Medikamente allmählich und nur unter ärztlicher Kontrolle abzusetzen, um eventuelle unerwünschte Effekte (z.B. verstärktes Wiederauftreten der Tics) zu vermeiden. Vielfach nehmen erwachsene TS-Patienten nach und nach immer weniger Medikamente ein, d.h. sie können im Laufe der Zeit immer besser mit ihren Tics umgehen und/oder erfahren eine spontane Linderung.

Gibt es alternative Behandlungsmöglichkeiten?

Entspannungsverfahren, Biofeedback-Techniken und andere verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen können zum einen Streßreaktionen vermindern helfen (die ansonsten Tics verstärken); zum anderen können sie auch die Selbstkontrolle der Tic-Symptomatik verbessern. So kann gelernt werden, daß man einen sozial unangenehmen Tic eher durch eine Bewegung ersetzt, die sozial akzeptabler ist. Auch können sonstige psychotherapeutische Maßnahmen in Frage kommen, um einen Betroffenen und seine Familie zu unterstützen, damit der innere und äußere Umgang mit dem Tic besser gelingt. Hier ist auf den Einzelfall bezogener fachlicher Rat angebracht.

Wieviele Personen mit einen Tourette-Syndrom gibt es in Deutschland?

Die tägliche Erfahrung zeigt, daß es viele Personen mit einem TS gibt, bei denen die Diagnose bisher noch nicht gestellt wurde. Daher können die verfügbaren Zahlen nur Annäherungswerte darstellen. In den USA gibt es 100.000 Amerikaner, die ein voll ausgeprägtes TS aufweisen. Das bedeutet, daß etwa 5 von 10.000 Einwohnern ein TS unterschiedlichen Schweregrades haben. Überträgt man diese Zahlen auf die Bundesrepublik Deutschland, so müßten hier etwa 40.000 Personen mit einem TS leben.

Wie wichtig ist das soziale Umfeld für den Verlauf der Krankheit?

Wie bei jeder neuropsychiatrischen Erkrankung ist die stützende und verstehende Umgangsweise des Umfeldes von großer Bedeutung; vor allem um ungünstige Reaktionen auf die Erkrankung (z.B. Resignation, Ausgrenzung, Rückzugsverhalten) zu vermeiden und positive Perspektiven beizubehalten bzw. zu entwickeln. Dies gilt besonders für die Persönlichkeitsreifung im Kindesalter.

Benötigen TS-Patienten spezielle erzieherische, schulische oder berufliche Hilfen?

Kinder mit einem TS besitzen etwa die gleichen geistigen Leistungsfähigkeiten wie andere Kinder ihres Alters. Dennoch haben viele Kinder mit einem TS Lernschwierigkeiten. Dies hängt am ehesten damit zusammen, daß 50-60% der Kinder mit einem TS auch von einem Hyperkinetischen Syndrom betroffen sind. Es kommt noch hinzu, daß sie mit ihren Tics zu kämpfen haben (Störungen beim Schreiben, Hänseleien). Hier muß für jedes einzelne Kind eine passende Lösung gefunden werden. Dies kann reichen bis zur Benutzung von Schreibmaschinen oder Computern wegen Lese- oder Schreibproblemen, Prüfungen in speziellen Räumen, wenn vokale Tics ein großes Problem darstellen, oder der Erlaubnis, den Klassenraum zu verlassen, wenn die Tics sich unüberwindbar angestaut haben. Kommt es zu weiteren Verhaltensschwierigkeiten, so sind diejenigen Maßnahmen einsetzbar, die auch bei Kindern ohne ein Tourette-Syndrom, z.B. von Seiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie angeboten werden. Nur vom TS schwer betroffene Personen müssen mit Einschränkungen ihrer privaten und beruflichen Lebensgestaltung rechnen. Dabei können und sollten sie alle verfügbaren staatlichen Hilfen nutzen.

Ist es wichtig, das Tourette-Syndrom früh zu behandeln?

Ja, insbesondere in den Fällen, bei denen die Symptomatik so ausgeprägt ist, daß die Kinder als bizarr, störend und angstauslösend erlebt werden und Kind sowie Umgebung unter dem TS leiden. Nicht selten bewirken TS-Symptome, daß die Kinder ausgelacht sowie von ihren Altersgenossen zurückgewiesen werden, sich Nachbarn, Lehrer und andere Personen über die Kinder beschweren, den Eltern Vorwürfe machen. Auch die Eltern selbst können mitunter über das merkwürdige Verhalten ihrer Kinder erschrocken sein. Ebenso kann das Kind im Selbsterleben seiner Tic-Symptomatik zunehmend aus dem seelischen Gleichgewicht geraten. Diese Schwierigkeiten können im Laufe der Entwicklung eventuell noch zunehmen, gerade wenn Jugendliche ohnehin in eine schwierige Entwicklungsphase eintreten. Um derartige psychologische Folgewirkungen zu vermeiden und dem Kind eine möglichst günstige Entwicklung zu ermöglichen, ist eine frühe diagnostische Sicherheit und eine frühe Behandlung von Kind und Familie unbedingt anzuraten. Eine frühe Diagnose ist auch deswegen wichtig, weil viele Patienten nicht wissen, unter welcher Krankheit sie leiden, was sehr verunsichernd ist.

Welche Art der fachlichen Unterstützung gibt es?

In erster Linie ist fachlicher Rat bei Kinder- und Jugendpsychiatern, Kinderärzten und Nervenärzten zu suchen. Mittlerweile gibt es in Deutschland auch zwei Tourette-Verbände. Darin haben sich Betroffene, Fachleute und Interessenten zusammengeschlossen, um gemeinsam folgendes zu erreichen:

  • eine schnelle Information über neue Forschungsergebnisse in aller Welt
  • eine wirksame Öffentlichkeitsarbeit zum Abbau von Vorurteilen
  • Beratung und Hilfe bei Problemen
  • Erfahrungsaustausch
  • Förderung therapeutischer Möglichkeiten

Eltern, die ein Kind mit einem TS haben, sind einer Gratwanderung zwischen erzieherischer Notwendigkeit, verständnisvollem Umgang und Überbehütung ausgesetzt. Sie sind stetig mit der Frage konfrontiert, ob gewisse Handlungen ihres Kindes Ausdruck des TS sind oder Verhaltensauffälligkeiten darstellen, die erzieherisch korrigiert werden müßten und könnten. Die Eltern müssen dann die richtige Umgangsform für ihr Kind finden. Eltern eines Kindes mit einem Tourette-Syndrom sollten ihrem Kind die Möglichkeit geben, sich so unabhängig wie möglich zu entwickeln. Dabei sollten sie sich nicht scheuen, in liebevoller aber konsequenter Weise Grenzen zu setzen, wie sie das z.B. bei nicht betroffenen Geschwistern auch tun würden.

Welchen Weg geht die zukünftige Forschung zum TS?

Man versucht, die Beziehung zwischen Gehirnfunktion und Verhalten beim TS noch weiter zu erhellen. Dazu werden die modernen bildgebenden Verfahren wie Kernspintomographie und topographische Analyse der elektrischen Hirnaktivität genutzt. Auch untersucht man Gehirne verstorbener TS-Patienten. Ferner will man die Frage der Erblichkeit noch besser klären und auch mögliche andere Gründe (z.B. Infektionen, Immunsystemstörungen) prüfen. Schließlich sollten wir noch mehr über das Selbsterleben der Betroffenen, den Einfluß der Umgebung auf die Tics und deren Entwicklung sowie die Bedeutung von gleichzeitig auftretenden Störungen (z.B. HKS, Zwang) für den Verlauf des TS erforschen, um bessere Behandlungsmöglichkeiten anbieten zu können. Ein neues vielversprechendes Heilmittel steht immer noch auf der Wunschliste von Patienten und Ärzten.

Woher hat das Tourette-Syndrom seinen Namen?

Im Jahre 1825 wurde der erste Fall eines TS in der medizinischen Literatur beschrieben. Es handelte sich um eine adelige Dame, die Marquise de Dampierre. Ihre Symptome beinhalteten unwillkürliche motorische Tics verschiedener Art und auch verschiedene Lautäußerungen einschließlich der Koprolalie und der Echolalie. Sie wurde 86 Jahre alt. Ihr Fall wurde von Dr. Georges Gilles de la Tourette (ein französischer Nervenarzt, nach dem die Erkrankung schließlich benannt wurde) 1885 zusammen mit 8 weiteren Fällen beschrieben.

Warum diese Informationen?

Damit soll jedem die Möglichkeit gegeben werden, sich über das Tourette-Syndrom zu informieren. Die Fragen und Antworten dienen nicht dazu, medizinischen oder anderen fachlichen Rat zu ersetzen. Niemand sollte aufgrund dieser Veröffentlichung eine Behandlung beginnen, verändern oder abbrechen. Es ist dringend anzuraten, hinsichtlich dieser Überlegungen zuerst einen Arzt aufzusuchen.

 

Wir danken dem Autor und Urheber der "Fragen und Antworten", Prof. Dr. A. Rothenberger für die Erlaubnis der Veröffentlichung auf www.tourette.de.