Vielleicht guckt Gott ja grad mal weg

von Christian Hempel

Der Vortrag von Dr. Eugen Drewermann in der St. Johanniskirche hat viele Menschen angezogen, die sich jetzt hauptsächlich am Büchertisch aufgestellt haben, um dort ihr Buch signieren zu lassen. "Ich bitte Sie ja nur die Kirche zu verlassen", sagt der Mann mit dem zerknitterten hell-gelben Jackett und einem sympathischen Gesicht und einer netten Stimme. Irgendetwas irritiert mich doch trotzdem. Schon am Telefon tippte der Veranstalter zärtlich einen Bereich in mir an, der mir nicht behagt. Ich will nicht daran glauben. Ich will, dass er nur nett ist. Wie könnte er mich auch nicht schon längst viel gründlicher verstanden haben, als ich mich womöglich selber je verstehe. Schließlich ist er doch der Veranstalter eines Vortrags von Dr. Drewermann. Vermutlich dachte er ähnlich von sich. Ich will mich schützen und bin nett zu ihm. Er mustert mich, wie ich da stehe. Zum Glück habe ich mir noch diese wunderbar fallende, schwarze Hose angezogen - für ihn ist sie wichtiger, als mir lieb ist. Der Ton seiner Stimme sagt mir, ich bin nicht für Dich.

"Ich wollte ja gar nicht bleiben, wollte ja nur kurz Herrn Drewermann sprechen...es ist okay - ich bin gleich weg...ich möchte ihnen nur auch mitteilen, dass ich über ihre Bitte enttäuscht bin... trotz dass ich ja selber viel zu sehr ängstlich bin, als darauf zu bestehen hier bleiben zu wollen", sage ich, der zuckende Mann, der versucht gute Mine zu machen.

Vielleicht können Sie mich noch einen Augenblick die Menschenmassen hier genießen lassen - das alles halb genießen und mich halb quälen lassen, mit zunehmender Nähe Einzelner um so heftiger die Zähne zusammen zu beißen und um Gottes Willen versuchen locker zu bleiben - freundlich zu nicken, wenn da ein schönes Gesicht auftaucht aus der Masse, zu lächeln und vielleicht in ein wirklich nettes Gespräch zu kommen.

"Ich bin der Pastor des Krankenhauses, also ich umgebe mich jeden Tag mit Kranken und daher kann ich schon damit umgehen"

Warum wollen Sie dann, dass ich gehe, dachte ich und frage ihn, ob denn der Pastor Laufs schon da sei. Spätestens nachdem er im Weggehen antwortete "Ach, den kennen sie", war es mir klar, wo er mich sah und wo er sich sah. Zu diesem Zeitpunkt war es noch nicht Wut die mir weh tat, sondern nur ein undefinierbarer dumpfer Schlag in die Magengegend, dann ein wenig Hitze und dann kleine Tränen, die nie jemand ahnte, die sich direkt hinter den Augen sammelten und die in den letzten Jahren nicht mehr hinauskommen wollten. Ich sagte mit gesenktem Kopf und in der Hoffnung, dass er es hörte, "Nicht nur den kenne ich."

Verdammt ich habe mich auf sein beknacktes Spiel und damit auf seine Ebene eingelassen, ich spiele sein Spiel mit und ziehe meine Kontakte, Namen und meine PS aus dem Ärmel oder war zumindest auf dem besten Wege dorthin.

Eine ältere Frau, klein, weißes Haar, kommt auf mich zu und fragt mich nur mal, ob ich bescheuert sei. Das ist in Ordnung. Sie bleibt jedoch unerwartet und schaut mir offen ins Gesicht, dann fängt sie an mir zu glauben, fragt irgendwann wirklich und ich versuche ihr den gesamten Strauß an Christiano-Sympathico und ein bisschen mehr zu bieten. Es ist schon immer wieder sehr ähnlich; eine Kombination aus Informationen über das Tourette-Syndrom, das was mich eben so auffällig zucken und schreien lässt und persönlichen Nachrichten aus meinem Leben, als Könner und Macher, kurz als Super-Held, der wider aller Erwartung lebt und lacht. Auf die Frage, was machen sie denn so, kann man gut mit, "ich habe Abitur" einsteigen. Heute habe ich es etwas übertrieben, indem ich auch gleich meine Abiturnote mit angab. Vorurteile sind ja überall, so meine ich, dass mich meine Erfahrung lehrt, dass kleine ältere Frauen mit weißen Haaren gerne hören, dass man Abitur hat und sich auch freuen einen guten Notenschnitt zu vernehmen. Zumindest macht man damit nichts falsch. Es war wirklich gut, mit der älteren Frau zu plaudern, denn sie war wirklich interessiert und ich hatte schon lange nicht mehr die wir-haben-eigentlich-zu-wenig-Zeit-Version von Tourette-und-mein-Leben-die-Liebe-und-die-Arbeit vorgetragen. Zuletzt vor Drewermann am Büchertisch hockend, aber da hatten wir leider wirklich zu wenig Zeit. Und davor um die Mittagszeit, als es an der Tür klingelte und eine unbekannte sehr gut gekleidete Frau die Treppe hinaufstieg und mir erzählte, dass sie mich seit zwei Jahren, seit sie eine Dokumentation über mich sah, nicht mehr vergessen hat. Die mich unbedingt treffen wollte, weil sie mir nicht am Telefon von der Idee erzählen wollte, dass ich vielleicht geheilt werden könnte, von einem Heiler. Sie war sehr sympathisch und mir ist es oft egal, wie viel ich an solche Ideen glaube - es ist schön zu merken, dass jemand helfen möchte und sich über so lange Zeit Gedanken zu mir gemacht hat. Das jemand interessiert ist, fragt, kommt, zuhört, liebt.

Genau dieses Interesse fand ich nicht im Veranstalter-Mann mit zerknittertem Jackett, und sicher, er ist auch keineswegs verpflichtet Interesse zu haben - ich wünschte es mir aber. Das Problem war, dass er sich als etwas Besseres und Anständigeres empfand als mich, er stellte mich unter sich. Das war seine Haltung, das war sein Ton, der trotz allem freundlich war, aber nicht wahrhaftig, er war scheinheilig und ich würde gerne wissen, ob sich dass auf die gesamte Person bezieht.

Gelb-Knitter-Jackett: "Wollen Sie denn jetzt bei der Veranstaltung bleiben"

"Ach wissen Sie, ich pendle hin und her, ich hätte schon große Lust, es interessiert mich sehr, aber ich weiß nicht recht, es stört schon sehr, wenn ich so schreie, aber wenn es Herrn Drewermann nicht zu sehr stört... und vielleicht sagen Sie, dass es für Sie in Ordnung ist..?" Ich schaute ihn an, aber er war schwach, zumindest schwächer als ich annahm... "Nein ich fände es besser, wenn sie gingen, diese Veranstaltung heute Abend findet außerhalb der üblichen Gottesdienste statt"

"Ja - ich weiß! Ich mache die Internetseiten dieser Kirche, ich weiß Bescheid – ....könnten Sie sich denn vorstellen, dass sie kurz ansagen, um was es sich handelt, dass sich die Leute nicht wundern?....obwohl, sie sehen schon, dass sich kaum mehr jemand umdreht, viele der Leute kennen mich in Lüneburg und speziell in dieser Gemeinde"

"Nein, das will ich nicht tun. In diesem Rahmen heute passt das nicht"

Es passt nicht, es passt nicht, ich passe nicht, nein: es passt nicht, meine Tics passen nicht, meine Krankheit passt heute Abend nicht... sie passt heute thematisch nicht, sie passt nur heute nicht?... sie passt heute so schlecht in den Rahmen..... sie passt so schlecht zu uns hier.... Vielleicht ein Schild vorn dran: Krankheiten passen heute nicht. Oder: Krankheiten müssen draußen bleiben. Oh nein.... besser noch, weil viel freundlicher: Wir bitten Sie mit Krankheiten heute draußen zu bleiben.

Was halten sie vom Tragen? Ja, vom Mittragen. Wissen Sie, in jeder Stunde eines Tages und jeder Sekunde einer Stunde muss ich mit dieser Krankheit leben. Jeden Tag, seit mehr als zehn Jahren nervt sie mich selber. Ich habe nicht die Wahl! Ich schreie nicht, weil es mir Spaß macht und trotzdem, versuche ich zu lächeln. Ich wurde nicht gefragt, ob ich das will, ich musste mich damit arrangieren. Das ist ein schlimmer Kampf, denn denken sie mal, sie machen da was, was sie nicht tun wollen - eben - es ist nicht ihr Wille, es ist deswegen nämlich eine Krankheit, wenn sie so wollen, eine Behinderung. Niemand kann etwas dafür - niemand hat Schuld daran und trotzdem ist sie da.

Stellen sie sich einmal vor - nur kurz - ich stehe da vor ihnen und zucke und schreie wie ein Wilder und es wäre gar nicht meine Krankheit -- stellen sie sich vor es wäre ihre. Ja genau, ich zuckte, weil sie vor mir stehen. Nur eine Idee, nur ein Beispiel. Nein, nicht wahr. Nun weiter, es wäre ihre und sie hätten sie stark, ich würde immer weiter zucken und sie könnten mich, pardon, sie könnten sich, nicht stoppen. Niemand wäre Schuld daran. Wie schrecklich für sie. Ich mache das schon - ich mache das gerne für sie - ich zapple für sie. Keine Sorge, es macht mir nichts aus. Ich denke in diesem Beispiel haben sie es viel schwerer als ich. Vielleicht auch nur weil ich diese schnellen Bewegungen gewohnt bin, das mag sein. Ich würde sie versuchen zu ertragen. Manchmal, da würde es mir sicher schwer fallen, denn man will ja auch mal seine Ruhe haben, aber schließlich werden wir uns höchstwahrscheinlich nie mehr wieder sehen - und heute Abend, das mach ich gerne für sie mit. Ich fände es sogar ganz interessant, es wäre mal was ganz anderes. Viele Menschen trinken Alkohol, um in diesen Zustand zu gelangen, oder nehmen andere Drogen, auf dass sie die Normalität einmal für ein paar Stunden verlassen könnten. Schauen sie, ich habe einfach sie dafür - auch sind sie nicht gesundheitsgefährdend.

Bei meiner nächsten Veranstaltung werde ich alle die zerknitterte hellgelbe Jacketts an haben, bitte zu gehen. Es passt halt einfach manchmal nicht in den Rahmen.

Und auch das noch: "Der Herr Drewermann ist heute nicht wegen Ihnen gekommen"

Ich runzelte die Stirn "Ja, das ist mir schon bewusst". Was soll das bloß, was ist das für ein intelligenter Mensch? Wen glaubt er vor sich? Ist mir Lüneburg doch zu klein? Hat's hier doch was Provinzielles?

"Sehen sie, ich habe doch ihrem Wunsch entsprochen und Herrn Drewermann ihr Fax gegeben, dann ist es doch in Ordnung jetzt, ich habe mit ihm gerade noch mal gesprochen und er hat ihnen ja zugesagt, dass er ihnen schreiben wird."

"Dafür bedanke ich mich auch bei Ihnen, das ist wirklich sehr freundlich, aber das hat ja nichts mit der Veranstaltung heute zu tun."

"Dann gehen Sie doch bitte jetzt, wir wollen doch gleich in drei Minuten anfangen"

"Sie tun mir weh hören sie nicht? Merken sie das nicht, Herr Pastor vom Krankenhaus, ich verstehe, dass sie als Ausrichter dieser Veranstaltung eine Last geladen haben, eine Verantwortung, die sie vielleicht ängstlich macht, aber können sie nicht auch mein Gefühl verstehen? Es ist unendlich schwierig für mich, auch nur an einem Bruchteil von öffentlichem Leben mit Menschen teilzunehmen." Warum helfen Sie mir nicht, nur ein bisschen.

Ich war pünktlich zu Beginn der Veranstaltung weg und ging enttäuscht durch Lüneburgs mittelalterliche Gassen, in denen mich ein paar halbstarke Jugendliche sehr verständnisvoll und ehrlich auslachten. Aber das ist in Ordnung.

 

Hintergrundinformation

Der Veranstalter des Abends, um den es im Text geht, ist Pastor und Seelsorger in einem Krankenhaus. Der Leitgedanke von ihm, den er auf seine Fahnen schreibt, lautet:

Die Seelsorger sind in der evangelischen bzw. katholischen Tradition des christlichen Glaubens zuhause, von daher ist es ihr Ziel mit den Menschen die ihnen begegen,

- deren Situation auszuhalten,
- diese Menschen so wie sie sind anzunehmen,
- ihr "ich" zu stärken,
- sie zu ermutigen der Lebenszusage Gottes zu vertrauen.

Leider hat sich der Veranstalter auf die mehrfache Zusendung des mitlerweile publizierten Textes bis heute nicht gemeldet.