Bericht über die Implantation eines Hirnschrittmachers

von Kirill Glazunov

Bad Harzburg, den 12.12.2011

Meine Tourette-Symptomatik wurde immer schlimmer und schlimmer. Ich hatte immer weniger Raum, in dem ich mich ausbreiten konnte und musste mich endgültig in meinem Bett verkriechen. Unter "meinem Bett" meine ich nur die zwei aufeinander liegenden Matratzen auf dem Fußboden, denn das eigentliche "Schlafzimmer" habe ich schon vor langer Zeit durch meine unkontrolliert motorischen Tics zerschlagen, genauso wie diverse andere Möbel und Gegenstände ... Und gerade das Bett wurde für mich zum Horror-Ort, an dem sich meine schlimmsten Tics und Zwänge abspielten. Ich habe mich permanent blutig geschlagen, gekniffen, meine Lippen und die Zunge gebissen. So musste ich zum Beispiel immer öfter mit der Faust in mein linkes Auge schlagen. Ich hatte fast durchgehend ein blaues Auge und über dem Auge eine riesige Beule. Die Beule ist bis jetzt noch in meinem Gesicht zu sehen und mit dem Auge sehe ich nur sehr verschwommen.

Zu der Zeit konnte ich gar nicht mehr die Wohnung verlassen, und nichts mehr im Haushalt machen ohne was kaputt zu schlagen. Alles lag auf den Schultern meiner Pflegerin, die das ganze Elend mit ansehen und anhören musste, ohne mir helfen zu können. Sowie den ganzen Haushalt und meine Pflege hat sie alleine gemacht. Immer mehr litt ich zusätzlich an Selbstmordgedanken, da ich keine Zukunft für mich mehr sah. Die letzte Chance sah meine Pflegerin in der Implantation eines Gehirnschrittmachers. Ich war anfangs sehr skeptisch, da ich dachte, ich zerstöre das Gerät durch meine unvermeidlichen Schläge am Kopf und am Oberkörper. Doch meine Pflegerin war entschlossen, dass dies die einzigste Möglichkeit sei, mein Leben zu retten. Wir riefen Dr. Kuhn an in der Psychiatrie der Uniklinik Köln, wo ich 2007 zur medikamentösen Behandlung schon war und machten den nächstmöglichen Termin, Ende Oktober 2011, für die tiefe Hirnstimulation.

Die Fahrt nach Köln am 20. Oktober 2011 mit dem Krankentransport war für mich ein richtiger Horror. Anfangs war ich so aufgeregt, dass ich anfing, während des Transports um mich zu schlagen dadurch habe ich sogar die Sanitäter verletzt. Daraufhin mussten die Sanitäter mich an der Liege vollfixieren, so dass ich mich auf der fast vier Stunden dauernden Fahrt gar nicht bewegen konnte, ich habe geschrien ohne Unterlass. Es war eine richtige Folter mit dem Tourette-Syndrom fixiert zu sein, so dass man die üblichen Tics gar nicht ausüben konnte. Das kenne ich leider zu gut aus meiner Vergangenheit, wo ich in geschlossenen Psychiatrien Tage und Nächte lang fixiert werden musste.

Dann in der Uniklinik Köln: Da ich mich aufgrund meiner extrem ausgeprägten motorischen Tics aus meinem Zimmer in der Psychiatrie selbst gar nicht fortbewegen konnte, war abgesprochen, dass alle technischen Untersuchungen (MRT, CT etc.) am Tag und unmittelbar vor der Operation unter Vollnarkose zusammen mit der Operation durchgeführt werden. Die ganze Woche vor der Operation habe ich mich ausschließlich in meinem Zimmer aufgehalten und wurde von den Neurochirurgen und Psychiatern zu meiner Symptomatik genau befragt, damit die Ärzte herausfinden konnten, wo genau im Gehirn die Elektroden des Hirnschrittmachers plaziert werden sollten.

Am 27. Oktober, am Operationstag, bin ich frühmorgens aus meinem Zimmer in der Psychiatrie auf der Liege in die Neurochirurgie der Uniklinik Köln transportiert worden. Etwa 11 Stunden befand ich mich unter Vollnarkose und wachte erst gegen halb sieben im Aufwachraum der Neurochirurgie wieder auf. Zu meinem Erstaunen war ich ziemlich ruhig, nur konnte ich nicht normal reden, ich habe stark genuschelt – eine Nebenwirkung, mit der ich aber schon vor der OP gerechnet habe. Die erste Nacht nach dem Eingriff hatte ich weiterhin im Aufwachraum verbracht und bin am nächsten Morgen zurück in die Psychiatrie transportiert worden. An diesem Tag habe ich zum ersten Mal mein Zimmer selbstständig verlassen und bin ins Raucherzimmer der Station rauchen gegangen. Im Raucherraum habe ich ziemlich lange Zeit verbracht, die Leute um mich herum im Raucherraum haben mich gar nicht gestört, ich konnte mich mit ihnen unterhalten und konnte genießen, dass ich so ruhig und ausgeglichen war.

Plötzlich wurde ich gerufen: Professor Dr. Volker Sturm, der meine Operation geleitet hat und Dr. Jochen Wirths aus der Neurochirurgie, der ebenfalls meine Operation mitgemacht hat, wären da und möchten wissen, wie es mir am ersten Tag nach der OP geht und außerdem wollen sie meinen Schrittmacher mit der speziellen Fernbedienung besser einstellen.

Am Tag danach habe ich meine ersten Schritte aus der Psychiatrie in die Öffentlichkeit gemacht. Zum ersten Mal bin ich rausgegangen, auch hinter das Gelände der Uniklinik und habe gemerkt, dass ich mich fast ohne motorische Tics, ohne Zwänge und ohne, dass was passiert ganz normal unter Menschen gehen kann. Nur vokale Tics waren noch präsent, aber viel seltener, als vor dem Eingriff. Ich konnte mich minutenlang durch die Innenstadt von Köln ganz ohne TS-Symptome bewegen, und wenn ich ab und an schreien oder fluchen musste, hat fast niemand nach mir geschaut. Ich habe gleich gedacht, und zwar zu Recht, die Bevölkerung in Köln sei sehr tolerant, man kann quasi die Menschen hier mit solchen Tics nicht überraschen.

Ich musste allerdings noch etwa drei Wochen im Krankenhaus bleiben, zur Beobachtung und zur besseren Einstellung meines Hirnschrittmachers. Ich bin fast jeden zweiten Tag in die Neurochirurgie / Stereotaxie der Uniklinik gelaufen, wo die Fachärztin für Neurochirurgie, Frau Lenartz, mir den Schrittmacher mit der Fernbedienung immer wieder etwas umgestellt hat, damit eine optimalere Einstellung des Geräts gelingen konnte. Professor Dr. Volker Sturm und Dr. Jochen Wirths habe ich dort auch noch einige Male getroffen. Dr. Sturm hat mich nochmals ganz genau befragt zu allen meinen Tics und Zwängen vor und nach der Operation. So konnte ich zum Beispiel berichten, dass sich alle meine motorischen Tics und Zwänge nach der Operation insgesamt um etwa 80-90 % gebessert haben.

In Köln bin ich jeden Tag rausgegangen, mehr als eine Stunde bin ich durch die Stadt gebummelt, habe eingekauft, beim Bäcker Kaffee getrunken, im Stadtpark spazieren gegangen und verbrachte sogar eine halbe Stunde in einer Kirche voller Menschen im Gottesdienst ohne ein Mal zu schreien. Ich konnte mein Glück noch nicht richtig fassen, dass ich wieder fast normal bin, wie andere Leute!

Nach insgesamt fast vier Wochen Aufenhalt in Köln musste ich mit dem Krankentransport wieder zurück nach Hause nach Bad Harzburg fahren. Aber das war nicht zu vergleichen mit der Hinfahrt: Ich saß ganz locker hinten auf der Liege, spielte mit meinem Handy, unterhielt mich ganz entspannt mit der Sanitäterin. Zu Hause angekommen, ging ich abends noch mit meiner Pflegerin spazieren. Seit dieser Zeit gehe ich fast jeden Tag raus, helfe meiner Pflegerin einzukaufen und im Haushalt, spüle zum Beispiel jeden Tag das Geschirr, staubsauge, kümmere mich um unsere Katze. Durch die tiefe Hirnstimulation habe ich eine ganz neue Lebensqualität bekommen, eine neue Chance zu leben und ich freue mich darüber, wenn ich morgens die Augen aufmache und der neue Tag anfängt. Ab jetzt versuche ich diese Chance auszunutzen und aktiv zu werden in meinem gelernten Beruf als Mediendesigner.

An dieser Stelle möchte ich mich von ganzem Herzen bei allen Ärzten der Uniklinik Köln bedanken, die meinen Traum, normal zu leben, möglich gemacht haben! An erster Stelle ist es natürlich Professor Dr. Volker Sturm, der, wie oben erwähnt, meine Operation geleitet und geführt hat sowie Oberarzt Dr. med. Jochen Wirths, der ebenfalls operiert hat, Frau Doris Lenartz, die Fachärztin für Neurochirurgie, die den Hirnschrittmacher optimal eingestellt hat, die Ärzte von der Psychiatrie der Uniklinik Köln, Professor und Oberarzt Dr. med. Jens Kuhn, Dr. med. Daniel Huys, Professor Dr. med. Joachim Klosterkötter, der Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie die Stationsärzte der Station “3” der Psychiatrie an der Uniklinik Köln, die Oberärztin Frau Dr. Beril Canata und Dr. Tobias Skuban. Alle diese Ärzte haben mich vor und nach der Operation umfassend unterstützt und ausführlich beraten.

Mein besonderer Dank geht auch an meine Pflegerin und sehr gute Freundin Frau Heidemarie Könnecke, ohne die ich mich für diesen Schritt wahrscheinlich nie entschlossen hätte!

Video vor und nach der Implantation eines Hirnschrittmachers: Video anschauen [www.youtube.com]

Video nach etwa 10 Monaten nach Kirills Operation

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