Die Geschichte der Tics

von Sven Hartung

Wie lange es das rätselhafte Tourette-Syndrom schon gibt, weiß niemand, doch obwohl die moderne Medizin diese Tic-Erkrankung scheinbar jetzt erst entdeckt, finden sich Beschreibungen Betroffener in fast allen geschichtlichen Epochen. Die älteste Erwähnung stammt von dem griechischen Gelehrten, Arzt und Hippokrates Schüler Aretios von Kapadokien, der schon vor etwa 2000 Jahren Fälle von Zuckungen, Grimassenschneiden, Gebell, plötzlichen Flüchen und unvermittelten blasphemischen Äußerungen beschreibt. Eine befriedigende wissenschaftliche Erklärung ist von dem vor allem für seine gelungenen Beobachtungen und Darstellungen von Krankenbildern bekannt gewordenen Aretios allerdings nicht zu erwarten. Immer wieder machte er für die Krankheit "den Einfluß der Götter" verantwortlich oder diagnostizierte "Manie" oder "Wahnsinn " bei diesen verhaltensauffälligen Patienten, zum Beispiel bei einem ihm bekannten Handwerker:

"Ein Zimmermann war in seinem Geschäft ein ganz tüchtiger Mann. Er verstand es sehr gut, das Holz abzumessen, zu spalten, zu glätten, mit Nägeln zu befestigen, aneinanderzufügen, ein Gebäude mit vielem Geschick aufzubauen, mit seinen Lohnherrn zu unterhandeln, Contrakte abzuschließen und den gehörigen Lohn für die Arbeit auszubedingen. Befand er sich auf seinem Bauplatz, so war er vollkommen bei Verstande. Wenn er aber auf den Markt, oder in das Bad, oder anderswohin gehen wollte, so legte er seine Werkzeuge weg, seufzte erst einmal und zog dann beim Fortgehn die Schultern in die Höhe. Hatte er sich nun aus dem Gesichte der Gesellen, von seiner Arbeit und dem Werkplatze entfernt, so verfiel er in die vollste Raserei. War er dann wieder zurückgekehrt, so hatte er auch sogleich seinen Verstand wieder."1

Dieser ersten Beschreibung eines Tic-Patienten, der sich vermutlich bei der Arbeit bemüht, nicht durch seine Krankheit aufzufallen und dann nach dieser Konzentration und ständigen Anspannung seine aufgestauten Tics "entlädt", sollten in den nächsten Jahrhunderten noch weitere folgen. Daß die Krankheit in jedem Volk, in jeder Kultur vorkommt und auch keine Gesellschaftsschichten verschont, zeigt das Beispiel des römischen Imperators und Sonderlings Claudius (10 v. Chr. - 54 n. Chr.), der am liebsten ausgefallene historische Studien trieb und zu Gericht saß. Von dem römischen Biograph und Geschichtsschreiber Suetonius erfahren wir etwas über seine merkwürdigen Angewohnheiten und sein seltsames Erscheinungsbild:

"Claudius besaß eine gewisse würdevolle Erscheinung, die sich am ehesten dann zu seinem Vorteil zeigte, wenn er saß oder stand und keine Gefühlsregung zeigte. Denn, obwohl er groß, gut gebaut und ansehnlich war, sowie einen feingeschnittenen Kopf mit weißem Haar und einen schönen Nacken besaß, stolperte und wackelte er, wenn er ging, wohl wegen der Schwäche seiner Knie. Wenn er durch das Spiel oder das ernsthafte Geschäft erregt war, hatte er einige unangenehme Merkmale aufzuweisen. Es handelte sich dabei um unkontrolliertes Lachen, Speichelfluß im Bereich des Mundes, eine 'laufende' Nase, Stammeln und anhaltende nervöse Tics. Diese nahmen unter emotionaler Belastung so stark zu, daß sein Kopf von einer Seite zur anderen flog."2

Obwohl also auch vermutlich berühmte und historische Persönlichkeiten am Tourette-Syndrom litten, gibt es immer nur kurze und kaum aussagekräftige Erwähnungen dieser Krankheit in einer Geschichtsschreibung, die sich jahrhundertelang mit dem Auflisten von Kriegen und gekrönten Häuptern begnügte.

Daher wissen wir auch wenig über den Umgang vergangener Epochen mit Tourette-Kranken. Anzunehmen ist, daß Unwissenheit und Aberglaube für die Betroffenen oft zu einer (lebens-) gefährlichen Kombination wurden. An der Schwelle zur Neuzeit erschien 1487 in Deutschland ein Buch, das später als "erfolgreichstes Handbuch der Hexenjäger" traurige Berühmtheit erlangen sollte. Der "Hexenhammer" oder lateinisch "Malleus maleficarum" der beiden dominikanischen Inquisitoren Heinrich Institoris und Jakob Sprenger war eine Sammlung verschiedenster Schriften über und gegen das Hexenwesen. In dem Kapitel: "Über die Art, wie die Dämonen bisweilen durch Hexenkünste die Menschen leibhaftig besetzten", berichten die beiden Dominikaner über einen Priester, von dem heute viele Experten glauben, daß er an Zuckungen und Koprolalie, also an Symptomen des Tourette-Syndroms litt:

"Wenn er beim Vorübergehen an einer Kirche die Kniee zur Begrüßung der glorreichen Jungfrau beugte, dann streckte der Teufel seine Zunge lang aus seinem Munde heraus, und befragt, ob er sich dessen nicht enthalten könnte, antwortete er: 'Ich vermag das durchauch nicht zu tun, denn so gebraucht er all meine Glieder und Organe, Hals, Zunge und Lunge, zum Sprechen oder Heulen, wenn es ihm gefällt. Ich höre zwar die Worte, die er so durch mich und aus meinen Gliedern heraus spricht; aber zu widerstreben vermag ich durchaus nicht. Und je andächtiger ich einer Predigt zu folgen wünsche, desto schärfer setzt er mir zu, indem er die Zunge heraussteckt."3

Als einzige Rettung für solche Menschen galt im Mittelalter der Exorzismus, um die Dämonen wieder auszutreiben. Änderte sich auch danach nichts, blieb oft nur die "reinigende Kraft des Feuers", um die angeblichen Hexen und Dämonen auf ewig zu verbannen und die Seele der "Besessenen" zu retten. Viele Tourette-Kranke starben so sicherlich einen grausamen Flammentod oder mußten in ständiger Angst leben wegen ihrer Tics bei der Inquisition denunziert zu werden. Der intolerante und menschenverachtende Umgang mit Tic-Betroffenen zu dieser Zeit hat bestimmt auch den tourette-kranken Prince de Condé, einen Adligen am Hofe des Sonnenkönigs Ludwig dem XIV (1638-1715), dazu bewogen, sich einen Vorhang oder andere schnell greifbare Gegenstände in den Mund zu stopfen, damit er seine unfreiwilligen Bellgeräusche und Schreie am Hofe unterdrücken konnte und nicht unangenehm auffiel.

Trotz einer unbefriedigenden Quellenlage ist die Liste historischer Persönlichkeiten, denen Wissenschaftler heute nachträglich eine Tic-Erkrankung attestieren, lang und hochkarätig besetzt: Napoleon, Molière und Peter der Große gehören genauso dazu wie der große, jung verstorbene Komponist Wolfgang Amadeus Mozart. Vor allem schließen neueste Untersuchungen das aus den Briefen des musikalischen Genies an das "liebe Bäsle". In den unflätigen, heute wie damals unverhältnismäßigen Kraftausdrücken, die er der jungen Frau schreibt, sieht die Forschung heute Anzeichen für eine vorhandene Koprolalie, ein zwanghaftes Ausstoßen von Obszönitäten:

"...jetzt wünsch ich eine gute nacht, scheissen sie ins Bett, daß es kracht; schlafens gesund, reckens den Arsch zum Mund... leben sie recht wohl, ich küsse sie 1000 mal und bin wie allzeit der alte junge Sauschwanz Wolfgang Amadé Rosenkranz."4

Selbst vor seinem gestrengen Vater macht Mozart nicht Halt und schreibt ihm ungewöhnlich deftige und respektlose Sätze:

"Nun addio. Ich küsse den papa...und auf das heisel nun begieb ich mich,
und einen Dreck vielleicht scheisse ich..."5

Aus einem Brief an den Musiklehrer und Chorleiter, Anton Stoll, der Mozarts musikalisches Schaffen stets unterstützte und auch Werke des jungen Komponisten aufführte, läßt sich zudem noch ein weiteres Symptom des Tourette-Syndroms herauslesen, einen Hang zur Echolalie, dem sinnlos-mechanischen Plappern von Wörtern ohne erkennbaren Sinnzusammenhang:

"Liebster Stoll! bester Knoll! grosster Schroll! bist Sternvoll! gell das Moll thut dir wohl?...Ich bin Ihr ächter freund franz Süssmayer Scheißdreck. Scheißhäusel den 12. Juli"6

Georges Gilles De La Tourette
George Gilles De La Tourette

Erst 1885 gelang es George Gilles de la Tourette, einem jungen französischen Neurologen und Freund Sigmund Freuds, diese historischen Beobachtungen mit eigenen Studien und Ergebnissen zu verknüpfen und damit erstmals zu versuchen, das rätselhafte Leiden von anderen neurologischen Erkrankungen zu unterscheiden und eine charakteristische Symptomatik zu entdecken. Neun tourette-kranke Patienten beobachte er mit seinen Kollegen in einem Zeitraum von bis zu 60 Jahren, die bekannteste von ihnen war die adlige Madame de Dampierre, deren Fall George Gilles de la Tourette von seinem berühmten Vorgänger und Lehrer Charcot übernahm. Mit 7 Jahren begannen bei Madame Dampierré die Tics in den Armen, später erschreckte sie ihre adelige Umgebung mit obszönen Schreien, überliefert sind uns von dem gewissenhaften George Gilles de la Tourette die Wörter "Merde!" (Scheiße!) und "Salaud!" (Dreckschwein). Nicht nur diese Schimpfwörter der Madame Dampierre verewigte Tourette für die Nachwelt, genau analysierte er die Eigenheiten seiner adeligen Patientin:

"Frau von Dampierre, derzeit 26 Jahre, war im Alter von 7 Jahren betroffen von krampfhaften Kontraktionen der Hand- und Armmuskeln, die sich vor allem in den Augenblicken einstellten, in denen das Kind versuchte zu schreiben und wobei sich sehr abrupt seine Hand von den Buchstaben, die es gerade schreiben wollte, wegzog. Nach diesem Rucken wurden die Bewegungen seiner Hand wieder regulär und waren dem Willen unterworfen, bis daß eine andere plötzliche Zuckung die Arbeit der Hand von neuem unterbrach. Man sah in dem ganzen zuerst nur eine Art Lebhaftigkeit oder Übermut, die, als sie sich mehr und mehr wiederholten, zum Grund für Tadel und Bestrafung wurden. Aber bald gewann man die Gewißheit, daß diese Bewegungen unwillkürlich und krampfhaft waren, und man sah daran auch die Muskulatur der Schultern, des Halses und des Gesichtes teilnehmen. Es kam zu Körperverdrehungen und außerordentlichen Grimassen. Die Erkrankung schritt weiter fort, die Spasmen breiteten sich auf die Stimm- und Sprechorgane aus, diese junge Person hört man bizarre Schreie und Worte ausstoßen, die überhaupt keinen Sinn ergaben, aber alles ohne daß ein Delirium vorgelegen hätte, ohne irgendeine geistig-seelische Störung...So kann es vorkommen, daß mitten in einer Unterhaltung, die sie besonders lebhaft interessiert, plötzlich, und ohne, daß sie sich davor schützen kann, sie das unterbricht, was sie gerade sagt oder wobei sie gerade zuhört und zwar durch bizarre Schreie und durch Worte, die sehr außergewöhnlich sind und die einen beklagenswerten Kontrast mit ihrem Erscheinungsbild und ihren vornehmen Manieren darstellen; die Worte sind meistens grobschlächtig, die Aussagen obszön und, was für sie und die Zuhörer nicht minder lästig ist, die Ausdrucksweisen sind sehr grob, ungeschliffen oder beinhalten wenig vorteilhafte Meinungen über einige der in der Gesellschaft anwesenden Personen."7

Trotz dieser ständigen Fauxpas starb Madame de Dampiere sechsundachtzigjährige, ohne, daß sie ihre gesellschaftliche Stellung wegen des Tourette-Syndroms hatte aufgeben müssen. Noch monatelang beschäftigen sich französische Zeitungen mit ihren Tics, druckten Listen obszöner Wörter aus, die sie zu benutzen pflegte.

Auch George Gilles de la Tourette wurde durch seine umfangreiche Fallstudie schnell in der Fachwelt berühmt. Als charakteristisch für das Syndrom beschrieb er detailliert ein konvulsivisches Zucken, unfreiwilliges Wiederholen von Wörtern oder Handlungen (Echolalie und Echopraxie) sowie das zwanghafte Ausstoßen von Obszönitäten oder Flüchen (Koprolalie). Auch fand Tourette heraus, daß mehr Männer als Frauen von dieser Krankheit betroffen sind und viele Patienten überdurchschnittlich intelligent waren. Zudem stellte er fest, daß die untersuchten Betroffenen sich immer ihres Zustandes bewußt waren und grenzte das Tourette-Syndrom deutlich von der Epilepsie ab, mit der die Krankheit in der Vergangenheit immer wieder verwechselt worden war und entdeckte schließlich, daß keiner seiner Patienten identische Symptome hatte und die meisten der Betroffenen ebenfalls Fälle von Tourette-Erkrankungen in ihrem nahen Verwandschaftskreis aufwiesen. Nur in einem Punkt irrte der französische Neurologe. Da er nur Erwachsene untersuchte, ging er davon aus, daß es sich beim Tourette-Syndrom um ein chronisches, lebenslanges Leiden handelt. Erst in den letzten Jahren wurde Tourette an diesem Punkt korrigiert. 3%-18% der Tourette-Patienten, meist Jugendliche oder junge Erwachsene, erreichen eine vollkommene Heilung oder zumindest eine deutliche Verbesserung ihrer Krankheit.

Trotzdem haben viele Beobachtungen und Erkenntnisse George Gilles de la Tourettes bis heute Gültigkeit und zu Recht wurde die "Maladie des tics", die Krankheit der Tics, nach ihm umbenannt. Seine Leidenschaft für die verborgenen Seiten menschlichen Daseins wurden dem talentierten Neurologen und Spezialisten für Hysterien später dann allerdings zum Verhängnis. Eine junge Frau und schwere Paranoikerin wurde ihm zur Untersuchung aus dem Irrenhaus überstellt. In seinem Behandlungszimmer griff sie zur Pistole und schoß dreimal auf den angesehenen Nervenarzt. Eine Kugel traf Tourette direkt in den Kopf. Doch obwohl sie sofort heraus operiert wurde, erholte er sich nie wieder von diesem Anschlag. Zeitlebens litt er an Depressionen und allerlei Manien und starb schließlich in geistiger Umnachtung.

Nach dem Tod George Gilles de la Tourettes und seiner Entdeckung des Syndroms setzte eine Phase wildester wissenschaftlicher Spekulationen und Deutungsmöglichkeiten der Krankheit ein. Zunächst manifestierte sich die Sichtweise einer moralischen, nicht organischen Erkrankung als Ausdruck von Willensschwäche oder Boshaftigkeit, die man versuchte erzieherisch, z.B. mit der Lektüre des Struwelpeter, zu bekämpfen.

Ein Neueinsatz in der Beurteilung der Krankheit begann etwa um 1900, als Neurologen und der frische Berufsstand der Psychiater psychologische Faktoren bemühten, um die Tics ihrer Patienten zu erklären. Auch der berühmte deutsche Dichter Rainer Maria Rilke scheint sich zu dieser Zeit mit dem Tourette-Syndrom beschäftigt zu haben. Während seines Aufenthaltes in Paris entsteht als Ausdruck einer seelischen Krise der Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910). Darin beschreibt der mit dem Bildhauer Rodin befreundete Literat, wie der Protagonist Malte Laurids Brigge in Paris einen Spaziergänger beobachtet, bei dem ihm eindeutige Symptome des Tourette-Syndroms auffielen. Die Krankheit hielt damit ihren Einzug in die Weltliteratur:

"...aber es zeigte sich, daß vor mir niemand ging als ein großer hagerer Mann in einem dunklen Überzieher ... Ich vergewisserte mich, daß weder an der Kleidung noch in dem Benehmen dieses Mannes etwas Lächerliches sei, und versuchte schon, an ihm vorüber den Boulevard hinunter zu schauen, als er über irgend etwas stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte, nahm ich mich in acht, aber als die Stelle kam, war da nichts, rein nichts. Wir gingen beide weiter, er und ich, der Abstand zwischen uns blieb derselbe. Jetzt kam ein Straßenübergang, und da geschah es, daß der Mann vor mir mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs hinunterhüpfte in der Art etwa, wie Kinder manchmal während des Gehens aufhüpfen oder springen, wenn sie sich freuen. Auf den jenseitigen Gehsteig kam er einfach mit einem langen Schritt hinauf. Aber kaum war oben, zog er das Bein ein wenig an und hüpfte auf dem anderen einmal hoch und gleich darauf wieder und wieder ... Ich muß gestehen, daß ich mich merkwürdig erleichtert fühlte, als etwa zwanzig Schritte lang jenes Hüpfen nicht wieder kam, aber da ich nun meine Augen aufhob, bemerkte ich, daß dem Manne ein anderes Ärgernis entstanden war. Der Kragen seines Überziehers hatte sich aufgestellt; und wie er sich auch, bald mit einer Hand, bald mit beiden umständlich bemühte, ihn niederzulegen, es wollte nicht gelingen ... Aber gleich darauf gewahrte ich mit grenzenloser Verwunderung, daß in den beschäftigten Händen dieses Menschen zwei Bewegungen waren: eine heimliche, rasche, mit welcher er den Kragen unmerklich hochklappte, und jene andere ausführliche, gleichsam übertrieben buchstabierte Bewegung, die das Umlegen des Kragens bewerkstelligen sollte. Diese Beobachtung verwirrte mich so sehr, daß zwei Minuten vergingen, ehe ich erkannte, daß im Halse des Mannes, hinter dem hochgeschobenen Überzieher und den nervös agierenden Händen dasselbe schreckliche, zweisilbige Hüpfen war, das seine Beine eben verlassen hatte ... Ich begriff, daß dieses Hüpfen in seinem Körper herumirrte, daß es versuchte hier und da auszubrechen. Ich verstand seine Angst vor den Leuten, und ich begann selber vorsichtig zu prüfen, ob die Vorübergehenden etwas merkten ... Ich wußte, daß, während er ging und mit unendlicher Anstrengung versuchte, gleichgültig und zerstreut auszusehen, das furchtbare Zucken in seinem Körper sich anhäufte; aber auch in mir war die Angst, mit der er es wachsen und wachsen fühlte, und ich sah, wie er sich an den Stock klammerte, wenn es innen in ihm zu rütteln begann. Dann war der Ausdruck dieser Hände so unerbittlich und streng, daß ich alle Hoffnung in seinen Willen setzte, der groß sein mußte. Aber was war da der Wille. Der Augenblick mußte kommen, da seine Kraft zu Ende war, er konnte nicht weit sein ... Er wandte ein wenig den Kopf, und sein Blick schwankte über Himmel, Häuser und Wasser hin, ohne zu fassen, und dann gab er nach. Der Stock war fort, er spannte die Arme aus, als ob er auffliegen wollte, und es brach aus ihm aus wie eine Naturkraft und bog ihn vor und riß ihn zurück und ließ ihn nicken und neigen und schleuderte Tanzkraft aus ihm heraus unter die Menge. Denn schon waren viele Leute um ihn, und ich sah ihn nicht mehr ..."8


Rainer Maria Rilke: "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge"
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Mit dem Einzug der Psychoanalyse änderten sich später zugleich auch die Erklärungsmodelle für das Tourette-Syndrom, das Rainer Maria Rilke so präzise und sensibel geschildert hatte. Gehemmte Aggressionen, analer Sadismus, narzißtischer Onanismus, Abwehrtendenzen gegenüber lustbetonten Daumenlutschen, unbewußter muskulärer Erotizismus gegenüber dem Vater, waren zu dieser Zeit Erklärungsmodelle aus den "Abgründen der menschlichen Seele" für die Zuckungen, Schreie und Zwangshandlungen Tourette-Betroffener. Doch selbst Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, stand diesen tiefenpsychologischen Ansätzen seiner Kollegen kritisch gegenüber und war davon überzeugt: "Es dürfte sich da um etwas Organisches handeln".

Erst 40 Jahre später sollten sich die Vermutungen Freuds durch die Behandlung einzelner Patienten mit dem Psychopharmakon "Haloperidol" bestätigen. Doch auch die Sichtweise des Tourette-Syndroms als "biochemisches Phänomen", das durch ein Mißverhältnis des Neurotransmitters Dopamin im Körper hervorgerufen wird, gilt heute als unzulänglich. Die moderne Tourette-Forschung versucht das Syndrom in seiner gesamten Komplexität zu begreifen und sieht das Leiden gegenwärtig als kombinierte "biopsychosoziale" Funktionsstörung, für deren weitere Erforschung eine enge Zusammenarbeit unterschiedlichster medizinischer Fachgebiete unabdingbar ist.

Einen wichtigen Vorstoß im Umgang mit Tourette-Patienten machte in den achtziger und neunziger Jahren der New Yorker Neurologe Oliver Sacks. Wichtiger als das Krankheitsbild der Betroffenen sind für ihn bis heute Biographie und Eigenheiten jedes einzelnen Tourette-Patienten. Fesselnd und aufregend sind seine Schilderungen Betroffener, seine Botschaft lautet: Genauso variabel wie das Erscheinungsbild des Tourette-Syndroms muß auch der Umgang mit diesen Menschen sein, und nur sie selbst können entscheiden, was für sie am besten ist. Am deutlichsten wird dies am Beispiel von Witty Ticcy Ray, einem talentierten Jazz-Schlagzeuger und Patienten Sacks. Auch er nahm das "Wundermittel" Haloperidol ein, das zunächst auch seine Tics unterdrückte. Doch gleichzeitig verlor er auch seine schnelle Reaktionszeit beim Tischtennisspielen und seine musikalische Genialität. Auch seine Lieblingsbeschäftigung das rasche Hinein- und Herausspringen an Drehtüren führte nun zu einem Desaster. Mit einem blauen Auge und gebrochener Nase saß er eine Woche später wieder im Behandlungszimmer von Oliver Sacks mit den Worten: "Nehmen wir an, Sie könnten die Tics vollkommen wegbekommen, was würde übrigbleiben? Ich bestehe aus Tics - es würde nichts übrigbleiben."

Auch wenn für Betroffene wie Witty Ticcy Ray die Forschungslage weiter unbefriedigend bleibt, so hat doch der jahrhundertelange Kampf der Betroffenen um Anerkennung und das selbstbewußte Auftreten von vielen Tourette-Kranken dazu geführt, daß selbst in der medizinischen Forschung heute der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht die Krankheit. Die Geschichte der Tics - heute wird sie nicht mehr von Ärzten und Psychologen geschrieben, sondern von Menschen wie Witty Ticcy Ray, Mahmoud Abdul-Rauf, Stefan Wilkens, Christian Hempel und Marcel Weickart.

aus: Sven Hartung: "...sonst bin ich ganz normal". Leben mit dem Tourette-Syndrom.
Hamburg: Rasch und Röhring, 1995.

 


1 Die auf uns gekommenen Schriften des Kappadocier Aretaeus, aus dem Griechischen übersetzt von Dr. Mann, Wiesbaden 1858, S. 53

2 zitiert nach: Aribert Rothenberger: Wenn Kinder Tics entwickeln, Stuttgart 1991, S. 200

3 Jakob Sprenger, Heinrich Institoris: Der Hexenhammer, München 1993, 11. Auflage, S. 112

4 zitiert nach: Wolfgang Hildesheimer: Mozart, Frankfurt 1977, S. 128

5 zitiert nach: Wolfgang Hildesheimer: Mozart, a.a.O, S. 31

6 zitiert nach: Wolfgag Hildesheimer: Mozart, a.a.O., S. 283

7 zitiert nach: Aribert Rothenberger: Wenn Kinder Tics entwickeln, a.a.O., S. 178f. Originalarbeit von Georges Gilles de la Tourette in der Zeitschrift "Archive de Neurologie", 1885

8 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, insel-taschenbuch, S. 58-61