'DOCH' / 'Traumgewalten'

Dokumentarfilm von Erwin Michelberger und Oleg Tcherny
D 2005

"Doch sprichst du. Ohne sagen zu können warum. Wie auch, wo du nicht einmal weißt, warum du lebst. Ich entscheide selber, ob ich spreche oder nicht, sagt jemand, der nicht schweigen kann."

Bild aus dem Film DOCH

Eine lichtdurchflutete Waldlandschaft. Drei Männer und drei Frauen treffen sich zum Picknick, reden und streiten über Liebe, Träume, Glauben, Ängste. Alle leiden an sogenannten Tics, dem Tourette-Syndrom, einer neuropsychiatrischen Erkrankung, bei der es zu plötzlichen, oft heftigen Muskelzuckungen oder Lautäußerungen kommt. Sie leben eigentlich ein normales Leben, haben Familien und Berufe, doch ihre Krankheit erfordert ein Höchstmaß an Sensibilität, Selbstkontrolle und -reflexion.

Mit Charakteren, bei denen "man eine große Beweglichkeit der Gedanken und eine Leichtigkeit des Geistes und des Charakters beobachtet, die im allegmeinen nur in der frühen Kindheit auftritt und hier sogar den Veränderungen durch das Alter widersteht." (Georges Gilles de la Tourette, 1884).

Der Filmemacher Erwin Michelberger hat diese Gruppe zusammengeführt, um ein außergewöhnliches Dokumentarfilmprojekt zu verwirklichen: einen Film, der diese Krankheit beschreibt, den Menschen, ihren Gefühlen und Gedanken dabei sehr nahe kommt, die Wahrhaftigkeit und versteckte Schönheit ihres unwillkürlichen Ausdrucks zu Tage fördert. Es geht ihm um die dünne Trennungslinie zwischen "normal" und "nicht-normal", um eine Liebeserklärung an das Andersartige in uns, das zu entdecken wir uns fürchten. "Traumgewalten" ist die Kurzfassung des langen Dokumentarfilms "Doch", der als Festivalpremiere für das Programm der diesjährigen Duisburger Filmwoche vorgesehen ist.

Erwin Michelberger (geboren 1950 in Bad Saulgau) studierte in der Filmklasse der Kunstakademie Düsseldorf. Seit 1980 realisierte er zahlreiche, zum Teil preisgekrönte Filme, unter anderem "Kopffeuer" (1988). Zusammen mit Oleg Tcherny (geboren 1971 in Minsk), ebenfalls Absolvent der Kunstakademie Düsseldorf, entstanden die Dokumentarfilme "Blumen lieben oben" (1999) und "schlittenschenken" (2002), der auf der Duisburger Filmwoche 2002 mit dem Arte-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde.

Produktion: Michelberger Filmproduktion in Zusammenarbeit mit ZDF/3sat
Redaktion: Inge Classen

Kamera: Justyna Feicht, Susumu Miyazu
Schnitt: Oleg Tcherny
Ton: Mathilde Kohl

 

Kritik aus dem Kulturmagazin 'K West' Feuilleton für NRW


Da hilft nur der Perspektivwechsel. Und der folgt manchmal einem inneren Zwang. Etwa bei Menschen, bei denen 'man eine große Leichtigkeit des Geistes und des Charakters beobachtet, die im allgemeinen nur in der frühen Kindheit auftritt und hier sogar den Veränderungen durch das Alter widersteht'. Schreibt Georges Gilles de la Tourette 1884. Mit dem nach ihm benannten Syndrom, einer neuro-psychiatrischen Störung, sind die sechs Personen behaftet, die Erwin Michelberger und Oleg Tcherny in ihrem Film mit dem prägnant wie ein Ausrufezeichen gesetzten Titel "DOCH" - ebenfalls über einen längeren Zeitraum hinweg - zu Worte kommen lassen.
Das Unangepasste und Neben-der-Spur-Gehen beschäftigt die Köln-Düsseldorfer Filmemacher seit jeher. Michelbergers und Tchernys ideale Erzählform ist das Symposium, der Austausch - der Wunsch nach Kontakt bis zum Schrei nach Liebe. Sie registrieren Auf - und Ausbrüche von Menschen, die jeder für sich eine Ausnahme bilden, auf sehr sublime Weise, zu der hier auch die Musik von György Kurtag beiträgt. Sprachlich und motorisch teils präzise, teils unkontrolliert mit ihren Tics und Muskelkontraktionen treffen wir die drei Frauen und drei Männer wie bei Manets "Picknick im Grünen". Intelligent und emotional erklären, positionieren und reflektieren sie sich in ihrer Ambivalenz. Da ist einerseits ihre bewusste und oftmals gewitzte Virtuosität, andererseits drängt sich das Befremden hervor, sich selbst ausgeliefert und nicht Herr im eigenen Haus zu sein. Wie unter dem Brennglas verdichtet sich eine Befindlichkeit, die uns alle, wenngleich nicht in solch krasser Ausprägung, betrifft, und grundlegende Fragen formuliert: "Wo ist das Mittelmaß? Wo ist die Balance?" Mit seiner Krankheit zu leben, erläutert einer der sechs, sei "wie ein Abenteuerurlaub, den ich nicht gebucht habe". Was für ein Satz!
Andreas Wilink

 

Filmfestivals in Amsterdam  20. bis 28. November 2008


Das Internationale Dokumentarfilm Festival Amsterdam steht für die engagierten Dokumentationen, das Shadow Festival Amsterdam für die künstlerischen. Diese häufig gehörte Charakterisierung wird in diesem Jahr durch die Eröffnungsfilme der beiden Festivals bestätigt. Der Eröffnungsfilm des IDFA hat eine klare, links-politische Botschaft und scheint aufgrund seines mediengeeigneten Inhaltes ausgewählt worden zu sein: "Operation Homecoming" aus den USA. Das Shadow Festival eröffnet mit einem ganz eigenwilligen Film, der eher Diskussionen anregen und nicht etwas plakativ deutlich machen will: "DOCH" aus Deutschland.

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Das SYNDROM
Da ist doch der Film "Doch" von Erwin Michelberger und Oleg Tcherny, der Eröffnungsfilm des Shadow Festivals, aufrichtiger. Vor allem weil es eine fast klassische Dokumentation ist, denn die Wahrnehmung steht an erster Stelle. Die Macher vermeiden es, die eigene Meinung deutlich werden zu lassen.
"Doch" beginnt hervorragend mit einem Standbild einer goldglänzenden Wiese, die von hohen, grünen Bäumen umsäumt ist. Während der Nebel aufsteigt, sehen wir aus der Ferne eine Gruppe Menschen herannahen. Es sieht aus, als ob sie eine Theaterszene aufführen: sie laufen ein Stück und bleiben dann auf einmal, als einer von ihnen ein Geräusch von sich gibt, bewegungslos wie ein Wachsbild stehen. Diese dreiminütige Szene ist eine schöne Metapher für das Tourette-Syndrom. Menschen, die an dieser neurologischen Krankheit leiden, zeigen Geräusch- und Bewegungsticks, wie das übertriebene Zusammenkneifen der Augen oder das Herausschreien von sinnlosen, häufig obszönen Lauten. Durch das kollektive Stillstehen - gleichsam wie ein Tick - wird dies subtil deutlich gemacht.

Die Absicht dieses Dokumentarfilms ist verräterisch einfach. Michelberger und Tcherny filmten eine Gruppe von Menschen mit dem Tourette Syndrom dreimal während ihrer jährlichen Treffen, die weit außerhalb der bewohnten Welt stattfinden. Auch dies ist eine schöne Metapher für ihre Position als Verstoßene in der Gesellschaft. Vor der Kamera führen die drei Männer und drei Frauen ständig Gespräche. Nicht über "Dies und Das", sie schneiden die großen Lebensfragen an, zum Beispiel ihre Situation als Außenseiter und die Frage nach dem Sinn des Lebens. Michelberger und Tcherny halten sich zurück. Einen Druck zur Interpretation üben sie niemals aus. Die einzige Informationen, die sie geben, sind die Jahreszahlen der Treffen, bei denen die Gespräche stattfanden. Sie filmen in einem "improvisierten Stil". Nicht durchgehend ist die Kamera auf die Person gerichtet, die spricht. Zuerst erscheint dies als etwas "Unvollkommenes", aber schnell entwickelt sich diese Art zum Positiven. Sie scheint mehr Nachdruck auf die durch die Ticks entstehende Behinderung zu legen. Immer wieder werden die sechs Menschen beim Sprechen oder Zuhören durch ihre eigenen Grimassen oder verbalen Obszönitäten gestört.

Der lockere Stil erweckt den Eindruck, dass Michelberger und Tcherny die Gespräche ohne vorher festgelegten Plan und ohne vorherige Instruktion der sechs  Personen - einfach so - gefilmt haben. Mit dem dadurch entstandenen Anschein von Objektivität nähern die beiden Filmemacher sich einem "Kernwert" der Dokumentation. Dadurch wird das Anschauen des Filmes übrigens nicht einfacher. So wie im wirklichen Leben wirken die Gespräche zum Teil unstrukturiert. Auch dass die Kamera nicht immer auf den Sprechenden gerichtet ist, trägt zu einem fragmentarischen Eindruck bei. Aber wer sich davon nicht irritieren lässt, wird belohnt. "Doch" bringt den Zuschauer dazu, seine persönliche Haltung gegenüber Menschen mit Tourette-Syndom zu überdenken und lässt so eher eine Diskussion entstehen als ein Gefühl von Mitleid. Diese Dokumentation will ganz anders als "Operation Homecoming"  konfrontieren und auf keinen Fall den Zuschauer mit dem flatterhaften Handschuh des Mitgefühls bedecken.

UNTERSCHIEDLICH
Die beiden Eröffnungsfilme bieten dem Liebhaber von Dokumentarfilmen in diesem Herbst zwei unterschiedliche Stilrichtungen an: die eine richtet sich auf die  Konstruktion der Wirklichkeit mit Hilfe einer ideologischen Brille, die andere auf die unvoreingenommene Wiedergabe dieser Welt. Die letztere ist interessanter, weil sie dem Zuschauer mehr Verantwortung lässt. In einer Zeit, in der die audiovisuellen Medien in zunehmenden Maße alles in kleinen Brocken vorkauen, bewirkt die Machart von "Doch" - so traditionell das Verfahren eigentlich auch ist - eine Veränderung der Grenzen - ganz anders als die visuellen Spielereien im Film "Operation Homecoming". Niels Bakker
(übersetzt aus dem Niederländischen)

 

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Photos linke Seite: Ingo Schaefer